Berlin

Heinrich Zschokke Lesung im Haus der Vertretung des Landes Sachsen Anhalt beim Bund

Vergessene Dichter aus Sachsen Anhalt: Der aus Aarau in der Schweiz stammende Werner Ort stellte in Berlin Heinrich Zschokke vor und der Schauspieler Michael Kind, aus Halle an der Saale, las aus Werken von Zschokke. Das Publikum zeigte sich sehr angetan.

"Es ist eine grosse Auszeichnung für mich, als Schweizer in diesem Haus einen vergessenen Schriftsteller vorstellen zu dürfen, der einst zu den beliebtesten deutschsprachigen Dichtern, zu den populärsten Volksschriftstellern und zu den geachtetsten politischen Publizisten gehörte. Zu Lebzeiten war sein Namen den meisten Deutschen bekannt. Man schätzte ihn als humoristischen und zeitkritischen Erzähler, als Satiriker, als engagierten liberalen Publizist, als Herausgeber von Zeitungen und Zeitschriften, als Verfasser von historischen Werken und Romanen, als Autor eines der meistgelesenen theologischen Werks, der „Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christentums und häuslicher Gottesverehrung“ in acht Bänden. Die Liste ist noch lang nicht fertig".

Zschokke verfasste also ein vielfältiges, ein gewaltiges Werk: elf Dramen, eine grosse Zahl von Romanen und Erzählungen, historische Bücher, pädagogische, philosophische und theologische Schriften, politische Essays und seine damals viel beachtete Autobiografie „Eine Selbstschau“.

Es ist zu unterscheiden zwischen Zschokkes Frühwerk, das zwischen 1787 und 1797 hauptsächlich in Deutschland entstand, dem Hauptwerk aus der Schweizer Zeit zwischen 1798 und 1840 und dem wenig umfangreichen Spätwerk bis zu seinem Tod 1848.

In der Literaturgeschichte wird Zschokke gewöhnlich im Zusammenhang mit Heinrich Kleist genannt, weil dessen Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ als Vorlage einen Kupferstich hatte, den er im Winter 1801 in Zschokkes Wohnung in Bern sah. Zschokkes literarisches Werk, so vielfältig es ist, wird meist der Aufklärung zugeschrieben, also dem 18. Jahrhundert, dabei weist es auf den Realismus des 19. Jh. voraus und hat die beiden Schweizer Dichter Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller wesentlich beeinflusst, darüber hinaus hat er die liberale politische Publizistik und die Schweizer Geschichtsschreibung geprägt.

1910 erschien ein letztes Mal eine Sammlung seiner belletristischen Schriften in zwölf Bänden, dann wurde es ruhig um ihn. Kaum jemand nannte oder kannte mehr seinen Namen, am ehesten noch die Bevölkerung der Stadt Aarau, wo Heinrich Zschokke als Patriarch von zwölf Söhnen, einer Tochter und zahlreicher Enkel lebte. Dort nämlich, im Kasinopark von Aarau, steht seit 1894 sein Denkmal, über fünf Meter hoch, Heinrich Zschokke, in einer römischen Toga, mit energischem Gesicht, eine Schriftrolle und einen Schreibstift in der Hand, hinter sich einen Stapel Bücher. Auf dem Sockel ist in goldenen Buchstaben zu lesen: Heinrich Zschokke - 1771–1848 - Schriftsteller, Staatsmann und Volksfreund - Das Vaterland.

Trotz dieses Denkmals war der Name Zschokke als Schriftsteller in der Schweiz bis vor wenigen Jahrzehnten nicht vertrauter als in Deutschland. Das hat verschiedene Gründe. Der vielleicht Wichtigste ist, dass er nicht in den Fokus der Literaturwissenschaft geriet und somit auch nicht in den Kanon deutschen Schrifttums aufgenommen wurde. Daran trägt auch Zschokke selber Schuld: Er wollte einfach und verständlich schreiben, möglichst viele Leser unterhalten oder belehren, ohne den Anspruch, sich in den Dichterhimmel zu schreiben, ohne ästhetische Ansprüche und stilistische Finessen. Er schrieb für seine Zeitgenossen, wollte auf sie einwirken. Wenn ihm dies gelang, hielt er sein Ziel für erfüllt. Er war ein Schnellschreiber mit einem fast unglaublichen Ausstoss an Erzählungen und Artikeln, mit denen er seine zeitweise vier Zeitungen und Zeitschriften gleichzeitig bediente. Sein Verleger Sauerländer kam manchmal kaum nach mit dem Setzen und Drucken der Manuskripte, die er ihm lieferte. Es war der Geschäftstüchtigkeit dieses Verlegers zu verdanken, dass die Werke auch in Buchform herauskamen und immer wieder neue Auflagen erlebten. 

Es ist eigenartig, wie verschieden Zschokke in Deutschland und in der Schweiz wahrgenommen wird. Ich habe an zwei internationale Zschokke-Symposien teilgenommen: 2005 in Aarau und 2007 in Magdeburg. In Aarau trug es den Titel „Erziehung zur Demokratie“, und an ihm nahmen ausser einigen Literaturwissenschaftlern vorwiegend Pädagogen, Juristen, Politiker und Theologen teil. Das Symposium von Magdeburg nahm sich des Themas „Populäre Publizistik und Literatur um 1800“ an, und hier waren die Germanistinnen und Germanisten fast unter sich und befassten sich mit Zschokkes Jugendwerken, seinen Dramen und Romanen.

Bis vor zehn Jahren war Zschokke im Buchhandel kaum noch greifbar. Man musste sich in ein Antiquariat bemühen, um an eines seiner Werke zu gelangen, und da tauchte das nächste Hindernis auf: die nur noch von wenigen entzifferbare deutsche Fraktur. Dank Professor Holger Böning von der Universität Bremen sind seit 2007 zwei Bände mit Erzählungen und Reportagen Zschokkes in moderner Schrift erhältlich: „Weiss wie der Teufel“ und „Das Goldmacherdorf“.

Heinrich Zschokke wurde 1771 als Sohn eines Tuchmachers im Arbeiterviertel von Magdeburg geboren, wurde mit einem Jahr Halbwaise, mit acht Jahren Vollwaise, besuchte die Grundschule und das Gymnasium mit mässigem Erfolg und lief mit 16 Jahren davon, um Schauspieler zu werden. Er fand eine Stelle als Hauslehrer in einer Buchdruckerei in Schwerin, zog als Theaterdichter mit einer wandernden Schauspieltruppe herum, holte autodidaktisch das Abitur nach und schrieb sich als Theologiestudent an der Universität Frankfurt an der Oder ein. Im vierten Semester meldete er sich zur Prüfung, wurde mit 21 Jahren Doktor der Philosophie und Magister der schönen Künste und war zwei Jahre lang als Privatdozent an der philosophischen Fakultät tätig, in der Hoffnung, eine bezahlte Professur zu erlangen. Den Lebensunterhalt verdiente er sich nicht wie andere Studenten mit Nachhilfeunterricht, sondern mit dem Schreiben von Büchern und mit Zeitschriften.

1795 kam er in die Schweiz, wurde in die politischen Wirren der Helvetischen Revolution von 1798 hineingezogen und liess sich 1802 in der Nähe von Aarau nieder, wo er bis zu seinem Lebensende blieb, eine Familie gründete, mit dem Verleger Heinrich Remigius Sauerländer ein Zeitungs- und Zeitschriftenimperium aufbaute, publizistisch, politisch, als Pädagoge und Volksschriftsteller tätig war und nebenbei das aargauische Forstwesen und den Bergbau leitete. All dies und seine umfangreiche Korrespondenz brachte er nur deshalb unter einen Hut, weil er diszipliniert arbeitete und schon um fünf Uhr früh an seinem Schreibpult stand.

Das Frühwerk Zschokkes besteht vor allem aus Theaterstücken, die sich an Friedrich Schiller anlehnen, aus Erzählungen und teils mehrbändigen Unterhaltungsromanen à la mode du temps, aus Versepen im Stil von Christoph Martin Wieland und schöngeistigen Essays. Dieses Frühwerk ist geprägt von aufklärerischem Gedankengut, die frühen Dramen vom Sturm und Drang. Das Trauerspiel „Abällino, der grosse Bandit“ war der Renner der Theatersaison 1795/96 und machte Zschokke auf einen Schlag berühmt. Er sah und kleidete sich in jener Zeit als Künstler und trug seine Haare lang.

Als der Abällino seine Erfolgsreise antrat und die deutschen Bühnen eroberte, befand sich Zschokke bereits auf seiner Reise in die Schweiz. Von da aus wollte er das revolutionäre Paris und Italien besuchen. Er war mit der preussischen Zensur in Konflikt geraten und befand sich zum zweiten Mal auf der Flucht. In der Schweiz erhoffte er sich mehr Freiheit für sein Schaffen. Seinen Lebensunterhalt wollte er sich als Reiseschriftsteller, mit philosophischen Schriften und der Fortsetzung seiner Abenteuerromane verdienen. Anfang September 1795 betrat Zschokke bei Schaffhausen die Schweiz, das Sehnsuchtland seiner Kindheit, das er zu Fuss kreuz und quer durchstreifte.

Hier ein Auszug aus dem Roman „Der Schriftstellerteufel“, Frühwerk des jungen Dozenten der Philosophie, in dem er mit vielen Anspielungen satirisch das Schicksal eines Theaterdichters bei einer Wanderbühne beschreibt, die gerade im Städtchen Purlenburg gastiert. Man erinnert sich daran: Zschokke war selber als junger Mann einige Monate lang mit einer Schauspieltruppe unterwegs, schilderte also aus eigener Anschauung.

Michael Kind Schauspieler und TV Serien Star las Heinrich Zschokke:

Michael Kind Schauspieler ReiseTravel.eu

„Der Schriftstellerteufel“ (1791)

In der Schweiz gab es kein solches Publikum für Unterhaltungsromane. Das Leben in der Schweiz war hart, das Land karg, viele Menschen waren wenig ungebildet. Das wichtigste, wonach sie strebten, war das Überleben, und den geistigen Genüssen zogen sie die leiblichen vor. Zschokke hängte seinen Beruf als Dichter für gelangweilte Damen und Herren an den Nagel und fand seine Berufung in der Volksaufklärung und Volksbildung. Mit seiner Wochenzeitung „Der aufrichtige und wohlerfahrene Schweizerbote“ brachte er demokratische Ideen und Vorstellungen unter die einfache Bevölkerung, auf unterhaltsame Weise, anschaulich, in bildhafter Sprache und in einer Mischung von Informationen, Dialogen, Anekdoten und Erzählungen. Hier ein humoristischer Texte aus dem „Schweizerboten“.

„Erbauliche Betrachtung über einen gebratenen Kalbskopf“ (1804)

Es fällt schwer, aus dem Gesamtwerk Zschokkes einige wenige Textstellen herauszugreifen, nicht weil es nichts Passendes gäbe, sondern weil man bei der Auswahl vieles weglassen muss. Vor hundert Jahren konnte man zudem davon ausgehen, dass für viele Zschokkes Dorfroman „Das Goldmacherdorf“ mindestens ein Begriff war, auch einer seiner historischen Schweizer Romane wie „Der Freihof in Aarau“ oder „Addrich im Moos“. Seine „Lalenburger Geschichten“ wie „Hans Dampf in allen Gassen“ oder „Max Stolprian“ wurden gern in Kalender und Anthologien aufgenommen; auch „Die Abenteuer einer Neujahrsnacht“ waren sehr beliebt. Mit satirischer Feder zeichnete Zschokke die Spiessbürgerlichkeiten seiner Zeit nach, die zum Teil auch noch unsere Spiessbürgerlichkeiten sind.

Der König von Akim

Der König von Akim hat ebenfalls von den sagenhaften Weissen gehört, die übers Meer gekommen sind, und da er ein aufgeschlossener Herrscher ist, möchte er mit ihnen bekannt werden. Er schickt eine Gesandtschaft seinen tapfersten Krieger ans Ufer des Ozeans, um einen Weissen zu bitten, zu ihm zu kommen, falls es sich um vernunftbegabte Wesen handeln sollte, „oder, wenn es sich zeigen würde, dass es nur noch unbekannte Tiere wären, eins derselben lebendig einzufangen“.

Ein Beitrag für ReiseTravel von Werner Ort.

Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt beim Bund, Luisenstrasse 18, D- 10117 Berlin, Tel.: +49 30 243458-0, www.lv.sachsen-anhalt.de

Werner Ort, 1951 in Aarau (Schweiz) geboren, schloss sein Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Zürich 1996 mit der Dissertation „Die Zeit ist kein Sumpf; sie ist Strom – Heinrich Zschokke als Zeitschriftenmacher in der Schweiz“ ab. 1996–2002 wirkte er an einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Schweizerischen Nationalfonds mit zur Erforschung und Herausgabe des Briefwechsels Heinrich Zschokkes mit, als dessen Resultat 2001 das Buch “Guten Morgen, Lieber! Der Briefwechsel Heinrich Zschokkes mit seinem Verleger Sauer­länder“ erschien. 2000 war er an der Gründung der „Heinrich-Zschokke-Gesellschaft“ in Aarau beteiligt, deren Schriftführung und wissenschaftliche Beratung er übernahm. In ihrem Auftrag verfasste er das Buch „Der modernen Schweiz entgegen. Heinrich Zschokke prägt den Aargau“ (2003), und 2013 „Heinrich Zschokke (1771–1848). Eine Biografie“. Am 15./16. September 2005 war er Mitorganisator und Referent des Zschokke-Symposiums „Erziehung zur Demokratie“ in Aarau und am 2. - 3.11.2007 des zweiten Zschokke-Symposiums „Heinrich Zschokke – Populäre Publizistik und Literatur um 1800“ in Magdeburg. Er schrieb zahlreiche Aufsätze, hielt Vorträge und gab Rundfunkinterviews zu verschiedenen Aspekten Zschokkes und seines Umfelds, so sprach er am 7.10.2014 in der Stadtbibliothek Reutlingen zum Thema „Ärger mit den Reutlinger Nachdruckern – wie Heinrich Zschokke und sein Verleger Sauerländer dieses Problem meisterten“. Im Moment ist ein kultur- und pädagogikgeschichtliches Buch zum Seminar Reichenau (in Graubünden) in Arbeit.

Dr. Werner Ort, Stauwehrstrasse 47, CH-5012 Schönenwerd. Tel. 0041 44 301 47 11, w.ort@bluewin.ch

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