Gustav A. Horn

Corona: Die Impfstoff-Knappheit zeigt: Der Staat muss stärker als Unternehmer tätig werden. Indem er Risiken übernimmt, kann er sozialen Wohlstand sichern.

Chaos, Desaster, Totalversagen sind Vokabeln, mit denen in den vergangenen Tagen vielfach der Start des Impfprozesses gegen das Coronavirus beschrieben wurde.

Corona IPG Wo es wirklich klemmt

Adressaten waren je nach Verfasser die EU-Kommission, die Bundesregierung oder der Bundesgesundheitsminister. Die Autoren selbst rekrutieren sich zumeist aus deutschen Ökonomen unterschiedlicher Herkunft und Ausrichtung.  

So kritisierte Rudi Bachmann an dieser Stelle die EU-Kommission und die Bundesregierung dafür, nicht frühzeitig mehr Impfstoff bestellt zu haben.

In einem haben die Kritiker recht: Am Geld hätte dies zumindest nicht scheitern dürfen, denn die Mehrkosten für den Impfstoff wären schon durch minimale Verkürzungen des Lockdowns eingespart worden.

Dies beantwortet jedoch noch nicht die Frage, ob die Mehrausgaben nicht an anderer Stelle noch gewinnbringender einsetzbar gewesen wären. Ja, meint der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher hierzu an anderer Stelle. Die Nachfrage nach Impfstoffen sei hoch genug gewesen, um die gesamte Bevölkerung der EU zu impfen. Der Engpassfaktor sei die rechtzeitige Ausweitung der Produktionskapazitäten gewesen, in die man mehr Geld hätte investieren müssen.

Das Gegenargument, eine gesicherte hohe Nachfrage nach Impfstoffen, zu der sich die Regierungen frühzeitig verpflichtet hätten, hätte auch zu höheren Produktionskapazitäten geführt, entkräftet er mit dem Verweis auf den fehlenden Anreiz für die Unternehmen, schnell hohe Kapazitäten aufzubauen, wenn die Abnahme bereits garantiert ist.

Hier liegt denn auch das eigentliche Problem im derzeitigen Impfprozess. Es ist logisch, dass die Impfstoffanbieter trotz aller Nachfrage erst nach der Zulassung ihres Impfstoffs massiv in eine Ausweitung ihrer Kapazitäten investieren, ansonsten würden sie die Kosten der Ausweitung ohne entsprechende Erlöse zu tragen haben. Selbst wenn ihnen diese durch die Nachfrage garantiert ist, können sie ihren Gewinn steigern, wenn sie bis zur Zulassung mit den Investitionen warten.

Warum also sollte ein Unternehmen solche Risiken vorab eingehen?

Im Fall eines Misserfolgs vermeiden sie schließlich deren Kosten. Hinzu kommt, dass die Nachfrage nach Impfstoff anfänglich sehr hoch ist, im Laufe der Zeit aber mit fortschreitendem Impfschutz in der Bevölkerung und der wahrscheinlich zunehmenden Zahl von Anbietern zumindest für das einzelne Unternehmen abnehmen dürfte. Dann entstehen Überkapazitäten.

Dies erklärt denn auch, warum Impfstoff am Anfang knapp ist.

Das wussten alle, auch der Bundesgesundheitsminister, der dies zudem immer wieder öffentlich angekündigt hat. Vorzuwerfen ist ihm und den anderen zuständigen Ministern in der EU, dass sie nichts gegen diese absehbare Knappheit unternommen und der EU-Kommission entsprechende Anweisungen beim Ankauf gegeben haben. Doch wie hätten diese aussehen können?

Eine Möglichkeit wäre gewesen, allen in Frage kommenden Anbietern im Frühjahr eine Garantie für die Übernahme eines Großteils der Investitionskosten für die Produktionsausweitung zu geben, vorausgesetzt die Kapazitäten würden binnen eines halben oder dreiviertel Jahres zur Verfügung stehen. Diese Garantie hätte unabhängig von einer erfolgreichen Zulassung gegeben werden müssen. Dann wäre man sicher gewesen, dass zum Zeitpunkt der Zulassung höhere Kapazitäten gleich zu Anfang produktionsbereit gewesen wären, und der Engpass wäre weniger drängend gewesen.

In dieser Konstellation zeigt sich eine Besonderheit des Gutes Impfstoff: Er ist zu Beginn seiner Zulassung ein sogenanntes meritorisches Gut, das von privaten Anbietern aus den erläuterten rationalen ökonomischen Überlegungen heraus, in – aus  gesamtgesellschaftlicher Sicht – zu geringem Umfang angeboten wird. In diesem Fall ist dies allerdings nicht nur ein bedauernswerter wirtschaftlicher Nachteil, sondern eine Frage von Leben und Tod.

In diesem Fall ist dies allerdings nicht nur ein bedauernswerter wirtschaftlicher Nachteil, sondern eine Frage von Leben und Tod.

Daher ist es nur umso mehr gerechtfertigt, wenn der Staat mit erheblichen Geldmitteln Investitionsrisiken übernimmt und eventuell, falls ein Anbieter keine Zulassung erreicht, sogar ohne Gegenleistung übernimmt. Sollte sich der Lockdown dadurch auch nur ein wenig verkürzen, wird trotzdem letztlich sogar Geld gespart. Zudem ist diese Hilfe nur temporär erforderlich, denn spätestens, wenn der erste vollständige Impfdurchgang abgeschlossen ist, kann der Staat sich wieder zurückziehen. Zu diesem Zeitpunkt sind hinreichend Kapazitäten vorhanden, und zugleich sollte die Nachfrage zurückgehen.

All dies ist im Vorjahr so nicht geschehen. Dafür gibt es gute und schlechte Gründe. Die guten Gründe sind in der bislang unbekannten Form der derzeitigen Krise zu sehen. Das erfordert Erkenntnis- und Lernprozesse, in deren Verlauf unweigerlich auch Fehler begangen werden. Nicht alle kann man noch korrigieren, sie sind aber dennoch für künftige Krisen lehrreich.

Auf die schlechten Gründe hat Fratzscher hingewiesen. Risikoscheu, zwanghaftes Sparsamkeitsdenken in Bezug auf staatliche Ausgaben in Kombination mit einer erbarmungslosen Fehlerkultur gerade unter deutschen Ökonomen sind Hindernisse für ein ökonomisch erfolgreiches Verhalten. Hier müssen sich Einstellungen grundlegend ändern. Das gilt in besonderen Maße gegenüber wirtschaftspolitischem Handeln.

Fundamentale Skepsis gegenüber dem Staat als wirtschaftspolitischem Akteur ist ein Relikt neoliberaler Vergangenheit, ebenso wie eine Sichtweise unter Linken, die ihn als wohltätigen Planer sieht. Stattdessen sollte der Staat als Unternehmer in Sachen sozialem Wohlstand verstanden werden. Das heißt, er nutzt und gestaltet mit unternehmerischer Flexibilität und Risikobereitschaft die wirtschaftlichen Gegebenheiten in einer Marktwirtschaft, um Voraussetzungen für Wohlstand zu erzeugen und gleichzeitig soziale Risiken zu übernehmen.

Mit einer solchen Einstellung wären auch die notwendigen kreativen Vertragsgestaltungen zur Einführung eines dringend benötigten Impfstoffes, wie bei der derzeitigen Corona-Pandemie, leichter zu entwickeln und durchzusetzen. Das käme allen zugute. Und vielleicht beruhigen sich dann auch jene wieder, die im Moment nur Chaos und Desaster statt Lernprozesse zu erkennen vermögen.

Ein Beitrag von Gustav A. Horn. IPG Internationale Politik und Gesellschaft. www.ipg-journal.de

Gustav A. Horn ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen und Mitglied im SPD-Parteivorstand. Er war Gründer und von 2005 bis 2019 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.

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