Amrum | Nordseeinsel Amrum: Sand so weit das Auge reicht |
Aus weißen Dünen in die „Blaue Maus“. Zwischensaison auf Amrum
Stille Idylle: Wer jenseits der Badesaison nach Amrum kommt, mummelt sich mit Jacke, Schal und Mütze ein und trotzt auch einer steifen Brise.
Am Himmel treibt der Wind zerrissene Wolken, formt wunderliche Formationen und pustet sie wieder auseinander. Fantasien gehen auf große Fahrt. Allmählich erwacht die kleine nordfriesische Insel aus ihrem Winterschlaf. Vorbei die Tage, als sie wie erstarrt im Meer lag und die Winde wie Eis über das Land zogen. Bevor beim traditionellen „Biaken“ Frühlingsfeuer die nahende Feriensaison begrüßen, sind Wanderwege durch Dünen, Dörfer und am Meer oft noch menschenleer. Auszeit Ahoi! Wenn Böen nach der Kapuze greifen und die donnernde See entfesselt tobt, ist das wie ein Signal, die andere Welt hinter dem Horizont zu vergessen.
Rund acht Kilometer lang ist das Naturschutzgebiet der Amrumer Dünen
Zwei Dinge sollte der Feriengast in der regenfesten Jackentasche mit sich tragen: Fahrradschlüssel und Busfahrplan. Eine Tageskarte gibt freie Fahrt zu den Hauptorten Nebel, Norddorf und Süddorf. Endstation ist immer das Seebad Wittdün („Weiße Düne“) mit dem Fähranleger am südlichen Ende der Insel. Hingucker ist hier jedoch weniger die missglückte Architektur des Zentrums, sondern die weitläufige Promenade. „Wandelbahn“ nennen Amrumer den Laufsteg, der den Blick auf den sogenannten „Kniepsand“ und die offene Nordsee freigibt. Der feine Sand bedeckt ein Drittel der Inselfläche und war vor 150 Jahren dem Festland nur als Sandbank vorgelagert – gehörte also offiziell noch gar nicht zu Amrum. Wie viele Schiffe unter dem Sand verborgen liegen, weiß niemand ganz genau. Bei klarem Wetter ist nur das mächtige Wrack eines vor 25 Jahren gestrandeten Holzfrachters zu sehen. 16 000 Vögel starben damals an den Folgen der Ölkatastrophe.
Geburtshaus von Hark Olufs. Als Schiffjunge wurde Olufs 1724 versklavt. Später kehrte der Seemann und Militärstratege als reicher Mann auf die Insel zurück
Von der Promenade führen Treppen hinunter. In null Komma nix hat man Sand unter den Füßen. Wie eine Sichel zieht sich der Kniep 15 Kilometer lang und 1,5 Kilometer breit hinauf bis zur Nordspitze. Ein junges Paar teilt sich ein Fernglas. „Kiek, der Sand wird vom Meer angespült. An der Wasserkante lauert der Wind und legt ihn als Schutz vor Sturmfluten vor das Land“, erteilt ein Inselfriese den Landratten eine naturkundliche Lektion. Durch die ständig wandernden Sandmassen haben sich seit dem Mittelalter mächtige Dünenfelder mit Gras aufgetürmt. Aber bloß nicht in die Büsche schlagen!
„Unsere empfindlichen Weißdünen sind Bollwerke gegen die heranstürmende Nordsee“, erklärt eine Rangerin. Anders als die Vordünen werden sie vom Meer nicht mehr überflutet. So kann der Strandhafer mit seinem kräftigen Wurzelwerk die Sandhügel zusammen halten. Vom Wind getriebene Sandschleier versorgen ihn mit frischen Nährstoffen.
Im Sommer sind Strandkörbe Farbtupfer in der hellen Weite
Ein plötzlicher Nordwest fegt über die mystische Leere, in der im Sommer Fahnen und bunte Strandkörbe Farbtupfer setzen. Die Mütze tiefer im Gesicht geht es von der Brandungsseite weiter auf Bohlenwegen durch das sensible Ökosystem. Bis zu 30 Meter hohe Sandberge flankieren den Weg an die Ostküste. In dem geschützten Hinterland liegt Amrums schönstes Dörfchen Nebel. Der Ortsname ist freilich nicht auf launische Wetterkapriolen zurückzuführen, sondern kommt aus dem Dänischen („nei und „bel“) und heißt so viel wie Neue Siedlung. Das jüngste Inseldorf mit reetgedeckten ehemaligen Kapitäns- und Walfängerhäuschen ist das Schmuckkästchen auf Amrum. Was seinen Preis hat. Für eine Immobilie muss ähnlich tief in die Tasche gegriffen werden wie für Kampens Deluxe-Lagen auf dem benachbarten Sylt. Da taugt auch der Umstand, dass die erworbenen Häuschen mit üppigen Gärten und leuchtenden Fassaden im Sommer gefragte Fotomotiv für Touristenscharen sind, nicht als Preisbremse. Prominente wie Katja Epstein, oder die Schauspieler Hansjörg Felmy und Elfriede Rückert hatten in dem Bilderbuchdorf ihre Schlupfwinkel. Noch liegt Nebel wie ausgestorben. Eine heimelige Teestube oder ein Restaurant sind aber bestimmt geöffnet.
Ob es zu dieser Jahreszeit hier etwas zu sehen gibt? „Ja, watt meents du denn…?“, antwortet die Wirtin fast ein wenig beleidigt. „Zum Beispiel die erzählenden Grabsteine bi de Kaak“, zeigt sie hinüber zur Kirche St. Clemens. In einer Mulde zwischen zwei Geesthöfen steht die im Vergleich zu Gotteshäusern der reicheren Nachbarn Föhr und Sylt weiße, eher kümmerlich gezimmerte Kirche aus Feld-, Ziegelsteinen und Bautrümmern. Nirgendwo in Deutschland gebe es jedoch so viele „aussagekräftige“ Grabplatten wie auf dem Vorhof dieser Kirche, weiß Lars Rickerts von der Amrum Touristik.
Von Wohlstand, Ehre und Abenteuern, versunkenen Schiffen und dramatischen Lebensläufen berichten die mit barocken Schnörkeln und Allegorien gemeißelten Geschichtsbücher aus Stein. „Der Gedenkstein hier ist für Hark Olufs und spinnt kein Seemannsgarn“, versichert Rickerts: Als Schiffsjunge wurde Hark 1724 von algerischen Piraten gefangen und als Sklave verkauft. Der Nordfriese konvertierte zum Islam, stieg zum Schatzmeister und Heereskommandeur seines Herrschers auf und kehrte 1736 als wohlhabender Mann nach Amrum zurück. Zur See fuhr er nie wieder. Abseits der Kirche auf dem Friedhof der Namenlosen liegen die Armen. Verlorene von der Brandung verschluckte unbekannte Seelen, die das Meer in stürmischen Nächten an Land warf.
Wenn früher Bierfässer rollten oder die Buddel mit Rum kreiste, prahlten Seemänner im Dorfkrug auch schon mal mit leibhaftig gesehenen Seejungfrauen. Bei einem Spaziergang durch Nebels Gassen taucht plötzlich eine Schönheit auf. Nicht aus dem Meer, sondern als lebensgroße Holzskulptur im Garten von Tanja Wegner-Weiseth. Mit wallenden schwarzen Locken und von üppiger Weiblichkeit – oben. Geburtshelfer sei ein zwei Meter hoher Baum gewesen, erinnert sich die Frau: „Als der gefällt wurde, habe ich mich entschieden, den Stamm in ein Fischweib zu verwandeln.“
In der Speisekammer des nahen Watt bedienen sich Bachstelzen, Austernfischer und Säbelschnäbler. Über den Salzwiesen hängt ein milchiges Grau. Heute sind das keine guten Aussichten, auf dem knapp vier Kilometer entfernten fotogenen Leuchtturm nach schweißtreibenden 295 Stufen die Insel aus der Vogelperspektive zu betrachten. Dann lieber mit dem Fahrrad weiter nach Norddorf strampeln und dort auf bessere Sicht hoffen. Der Aussichtspunkt auf der Strandbrücke bietet ja auch einen Panoramablick aus höherer Warte über Deiche und Dünengürtel bis zur Sylter Südspitze.
Ein Gläschen Kniepsand als Mitbringsel
Wenn hinter Wolken über dem Lebensraum „Meer, Sand, Luft“ die ersten Sterne leuchten ist Zeit, die Speisekarte in der warmen Stube einer Inselgaststätte zu studieren. Wer diesmal Fisch und Krabben umschiffen möchte, nimmt kulinarisch Kurs auf gebackene „Futjes“ Pfannenkuchen) oder „stuuwet buanen“. Die gestopften Bohnen kommen mit Kartoffeln und Frikadellen auf den Tisch. Dazu ein aus Rum und Kakao gemixtes Gläschen „Tote Tante“.
Nachteulen zieht es später in die älteste Dorfkneipe auf Amrum. „Blaue Maus“ heißt die 70 Jahre alte Hafenkneipe mit Livemusik und einer Ehrfurcht gebietenden Auswahl feinster Whiskysorten. In der Bar tanzen nicht nur Oldies zu Oldies. Rockabilly, Reggea, Country und Blues geben den Ton an. Verdiente friesische Troubadoure wie Lale Andersen und Hans Albers oder eingenordete Seemänner wie Wiens Freddy Quinn, haben hier allerdings nichts zu sagen. Tscha, is so.
ReiseTravel Service:
Lage: Amrum („am rem“ = sandiger Rand) liegt im Nationalpark Schleswig- Holsteinisches Wattenmeer. Mit ihrer Größe 15 x 2,5 Kilometer ist die überschaubare Nordseeinsel leicht zu erkunden. Durchschnittstemperaturen in der Zwischen- und Nebensaison: Februar bis April 4 - 9 Grad, Oktober bis Januar 12 - 3 Grad. www.amrum.de
Anreise mit der Bahn: Über Hamburg-Altona bis Niebüll. Von dort weiter bis Dagebüll Mole zur Amrum-Fähre.
Mehr Sehenswürdigkeiten: Eiszeitliches Wohn- und Stallhaus, Heimathaus Öömrang Hüs, Vogelkoje Meeram.
Unterkunft: Hotel Seeblick, Strunwai 13, zentral in Norddorf. www.seeblick.de Frühstückshotel Ekke Nekkepenn im Herzen von Nebel, Waasterstigh 19, www.ekkenekkepenn.de
Restauranttipp: „Seekiste“ in Nebel, Smääljaat 2. Probieren: Altes Amrumer Linsengericht mit Rückenfilets. www.seekiste-amrum.de
Dorfkneipe „Blaue Maus“, Wittdün, Inselstraße 107. Geöffnet ab 18 Uhr, Do. geschlossen. www.blauemaus-amrum.de
Mitbrinsel: Öömrang-Gin. Fruchtig-zitroniges Getränk nach dem Rezept eines Insulaners.
Wellness: Wärmetanken können Besucher im „Badeland“ mit finnischer Blockhaussauna und Dampfbad in Wittdün.
Literatur: „Sylt, Amrum, Föhr“, Verlag Karl Baedecker, 230 Seiten 20,60 Euro.
Ein Beitrag mit Fotos für ReiseTravel von Manfred Lädtke.
Unser Autor lebt und arbeitet in Karlsruhe.
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