Calw

Literarische Wanderung im Schwarzwaldstädtchen Calw, ein puppiges Fachwerkambiente und jede Menge literarische Spuren: Hermann Hesse und seine Stadt!

Dichterspuren in „Gerbersau“: Mit den Augen des Dichters. „…hinter ihm sitzt eine Welt und liest“, schrieb Kurt Tucholsky über Hermann Hesse. Nur die Leserschar in Calw wusste lange Zeit wenig mit dem meistgelesenen deutschsprachigen Autor des 20. Jahrhunderts anzufangen.

Im Jahr 1877, also vor 141 Jahren, kommt Hesse in Calw zur Welt. Hesses Liebe zur Natur mag hier in den von urwüchsigen Tälern des Nordschwarzwaldes umgebenen Städtchen gewachsen sein, dessen zum Teil 300 Jahre alte Fachwerkhäuser immer noch das Flair von Vergangenheit schmückt. Everybodys Darling ist der Sohn eines Missionars dort aber nie.

Statt dem Wunsch des Vaters zu entsprechen und Kaufmann oder Handwerker zu werden, versucht der Querdenker und Autor von „Der Steppenwolf“ der geistigen Enge seiner Heimat zu entkommen. Eine Annäherung findet erst statt, als der Dichter 1947 den Literaturpreis erhält und die Stadt das Enfant terrible zum Ehrenbürger ernennt.

War Hesses 100. Geburtstag nicht viel mehr als eine Randnotiz in der lokalen Geschichtsschreibung, soll nun der Schwabe aus dem „Club der toten Dichter“ touristische Aufmerksamkeit auf die winkelige „Hesse-Stadt“ lenken, die mit seinem beschaulichen Charme Schwarzwaldurlauber und Literaturscouts aus allen Erdteilen der Welt zum Hesse-Walk – und ganz im Sinne des Dichters – zum Müßiggang einlädt. Kleine romantische Plätze und Ecken gibt es zuhauf in Calw, das vom Wiederaufbau vor mehr als 326 Jahren geprägt ist. Der gefürchtete General Ezéchiel Mélace hatte die Stadt am Wasser im Auftrag des Sonnenkönigs 1692 niedergebrannt. Drei Jahre zuvor machten dessen französische Heerscharen das Heidelberger Schloss zur bekanntesten Ruine in Europa. Von Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg blieb Calw verschont, sodass sich das beliebte Ausflugsziel nun ganz auf die historische Daten Hermann Hesses konzentrieren darf.

Hermann Hesse Calm by ReiseTravel.eu

Den 125. Geburtstag seines Rebellen feierte Calw 2002 mit einem immerhin neun Wochen dauernden Festival. „Wir haben Hermann Hesse gegenüber eine Schuld abzutragen“, räumte Calws Oberbürgermeister damals ein – wohlwissend um die Qualitäten des Nobelpreisträgers als Global Player im kulturellen Bereich.

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten…“ schreibt der Dichter in seinem Gedicht „Stufen“. Besucher dürfen diese lyrische Aufforderung auch auf die Kleinstadt am Fluss beziehen, denn: Mit oder ohne literarischer Spurensuche, das jahrhundertealte Städtchen hat Charme und Flair. Prosaischer ist es freilich, den Pfaden des jungen Hessen zu folgen. In seinem Roman „Unterm Rad“ gibt er - wie in anderen Werken auch - Calw den Namen „Gerbersau“.

Die ganze Welt des Dichters öffnet sich im Hesse-Museum. Etwas Puppiges, fast Rührendes haftet den Ausstellungsräumen an. Auf knarrenden, quietschenden Holzdielen führt der Weg durch Zimmer und Stübchen zu Glasvitrinen, Büchern, Fotografien, Schautafeln und alten Schreibgeräten. Keine flimmernden Multimediapakete, keine computergesteuerter Schnickschnack. Herrlich. Wem hier der Sinn nach einem „erlebnisorientierten“ Literatur-Walk steht, muss zur Spurensuche hinaus vor die Tür. Am Marktplatz 6 zeigt der Stadtführer auf zwei Wandtafeln. In der Wohnung im zweiten Stock kam das Hermännchen zur Welt. „Ein sehr großes, schweres, schönes Kind“, soll die Mutter in ihr Tagebuch notiert haben.

Hermann Hesse Calm by ReiseTravel.eu

Es ist Samstagvormittag in Calw. Von den Gemüse- und Blumenständen sind es nur wenige Schritte zum Stadtwald, der den Marktplatz mit dem Schwarzwald verbindet. Bewaldete Höhen mit Wanderwegen und Berge sind die Kulisse für das auf kleine Hügel gebaute Städtchen und wechseln im Spiel des Sonnenlichts ihre Farben. Ein Bild, stimmungsvoll wie aus dem Farbkasten eines Heimatmalers. In Hesses Geburtshaus wird heute Mode verkauft. Weder die Stadt noch Hesse selbst hatten Interesse, dort ein Museum einzurichten. Den Bewohnern Calws und der Enge des frömmlerischen Pietismus kehrte Hesse lieber den Rücken zu. Als er 1931 im Alter vom 54 Jahren zur Silberhochzeit seiner Schwester das letzte Mal seine Stadt besuchte, bittet er den Wirt: „Halten Sie mir die Calwer vom Leib.“

Solche Gemütsäußerungen hindern ihn aber nicht, seine Geburtsstadt zu verklären und ihr die Treue zu halten. In der Erzählung „Erlebnis in der Knabenzeit“ notiert er: „…Noch immer ist die Vaterstadt für mich… Vorbild und Urbild aller Menschenheimaten und Menschengeschicke.“

Wo im Zwinger einst Gasthaus stand sich heute ein Wohnhaus befindet, war früher das Armenhaus der Stadt untergebracht, über das Hesse in der Erzählung „In der alten Sonne“ schreibt. Seinen Namen am benachbarten Gymnasium auf dem Schießberg 9 konnte der Literat nicht mehr lesen. Erst fünf Jahre nach seinem Tod einigt sich die Stadt darauf, die Lehranstalt nach ihrem großen Sohn zu benennen. „Sei Du selbst. Fange bei Dir an. Vertrauen wir nicht auf Regierungen und Systeme“, sind Weisungen, die nicht in das Weltbild der auf Gehorsam und Tradition bedachten Kleinstädter passen.

In der Schulgasse bleibt der Guide vor der VHS und einstigen Lateinschule stehen, in der Hesse fast vier Jahre die Bank drückte. Als die Eltern ihn mit 15 Jahren in die 20 Kilometer entfernte Klosterschule Maulbronn schicken, büxt der Knabe aus. Er will Schriftsteller werden. Basta. Der verzweifelte Vater sucht Rat bei einem „Neurosenheiler“ und Teufelsaustreiber. Dessen Diagnose: Der Junge ist unheilbar krank und gehört in die Psychiatrie. Es ist spannend, über unzählige Steintreppen durch die romantischen engen Straßen der alten Gerber- und Flößerstadt zu wandern und Calw mit den Augen von Hermann Hesse zu sehen.

Als sich die Sonne früh hinter den Wipfeln versteckt, beendet der Hesse-Experte den Ausflug in die Vergangenheit. Auf der Nikolausbrücke, lenkt er die Blicke hinunter auf einen kleinen, jetzt unscheinbaren Platz. „Das ist mir der liebste im Städtchen. Der Domplatz von Florenz ist mir nichts dagegen“, hat Hermann Hesse der Brücke, dem Fluss und seinem Ufer ein literarisches Denkmal gesetzt. Als gern fotografierte Statue ist der literarische Rebell - spät - an seinen Lieblingsort auf die Nikolausbrücke zurückgekehrt.     

Besucher, die weiter in die Geschichte zurückreisen möchten, besuchen den Ortsteil Hirsau mit der Klosterruine St. Peter und Paul. Bevor das Kloster Hirsau im pfälzischen Erbfolgekrieg zerstört wurde, war es eines der bedeutendsten Klöster im deutschsprachigen Raum. Auf einem rund fünf Kilometer langen Waldspaziergang folgen Hessefreunde Wege und Pfade über dem Nagoldtal. Sie hören Geschichten und Anekdoten aus der Gegenwart, dem frühen 20. und späten 11. Jahrhundert: Immer Hermann Hesse im Ohr und das Schwarzwaldpanorama im Blick.

ReiseTravel Service

Calw liegt 100 Km südlich von Heidelberg und ist über die A 5 und A 8 erreichbar. Fahrzeit rund 1:45 h.

Stadtinformation: Sparkassenplatz 2, D-75365 Calw. Tel.: 07051 / 167-399. Dort gibt es auch Informationen zu Stadtrundgängen auf den Spuren des Dichters. www.calw.de

Führungen „Auf den Spuren von Hermann Hesse“ findet vom 6. Mai bis 28. Oktober regelmäßig sonntags ab 14.30 Uhr statt. Treffpunkt ist das Krankenhaus Calw.

Übernachtung: Zum Beispiel im zentralen Hotel Restaurant Rössle, Hermann-Hesse-Platz 2, 75365 Calw. Tel.: 07051 / 7900-0.  www.roessle-calw.de (DZ ab 90 Euro).

Hermann Hesse Museum: Öffnungszeiten: April bis Oktober dienstags bis sonntags 11 bis 17 Uhr, November bis März dienstags bis donnerstags sowie samstags und sonntags 11 bis 16 Uhr.

Literatur: Das aktuell überarbeitete Buch „Auf den Spuren von Hermann Hesse“ von Herbert Schnierle-Lutz ist eine übersichtliche Biografie und Reiseführer zugleich. Das Buch führt Leser durch Calw und andere Orte, die in Leben und Werk Hesses wichtig waren: Insel-Taschenbuch, ISBN 978-3-458-36154-1. Das Buch kostet im Buchhandel 18,00 Euro.

Ein Beitrag mit Fotos für ReiseTravel von Manfred Lädtke.

Manfred Laedtke ReiseTravel.euUnser Autor lebt und arbeitet in Karlsruhe.

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