Otto Sperlich

Zu Gast im Atelier beim Maler Frank Otto Sperlich!

Kunst: Überall liegen sie herum, auf dem Fensterbrett, Schreibtisch oder Sofa: Blätter mit kleinen Skizzen und Vignetten, Zettel mit kleinen Rädchen, Spiralen, Bögen, Ecken und Kanten. Mittendrin Schiffchen, Panzerrädchen, angerissene Köpfe, Gesichter. Seltsame Figuren, gleiche einem Kapitänsmännlein, einem Dirigenten oder Trommler, hängen an seidenen Fäden oder Stricken zwischen Zahnrädern, Achsen, Schiffsschrauben. So ungefähr sähe es in seinem Kopf aus, meint der Maler Frank Otto Sperlich. Ein einziges Wirrwarr. Gedankenfetzen, Assoziationen, Erinnerungen, Eindrücke, Emotionen. Nüchtern und klaglos beschreibt er seinen Zustand.

Auf der großen Leinwand vollenden sich die Zeichnungen, nehmen Gestalt an. Jedes Teil steht für sich. Präsent, bedeutungsvoll, will gesehen und verstanden werden. Zugleich wird jedes Element wie in einem mechanischen Getriebe beieinander gehalten. Eines bedingt das andere. Das ist auch die Aussage seiner Kritzelstriche: „Versöhnung der Rädelsführer“ oder „Alles hängt mit allem zusammen“. Wie zerrissen es in seinem Inneren auch aussähe, arrangiert er sich damit. Vielleicht um ein Stück sein Seelenwirrwarr zu verstehen, es zu entknoten, hat sich der auf Rügen bekannte „Meeresmaler“ nun einem Thema gewidmet hat, das ihn schon lange umtreibt.

Der Maler und das Meer

Frank Otto Sperlich by ReiseTravel.eu

„Böhmen liegt am Meer“

Denkt man an Böhmen, kommt einem zunächst der Böhmische Wald in den Sinn. Was hat Böhmen mit dem Meer zu tun?

Böhmen am Meer - ein wiederkehrendes Motiv in der deutschen Literatur. Eine Metapher, eine Idealisierung wie in dem Gedicht „Böhmen liegt am Meer" von Ingeborg Bachmann, inspiriert von Shakespeare, der in seinem „Sommernachtstraum“ Böhmen irrtümlicherweise ans Meer verlegte. Für  Ingeborg Bachmann war Böhmen ein Land der Sehnsucht, das die Menschen nicht erreichen würden und trotzdem darauf hoffen, weil sie sonst zerbrechen könnten. „Es ist ein Utopia, also ein Land, das es gar nicht gibt“, schrieb sie, „denn Böhmen liegt natürlich nicht am Meer. Aber es liegt doch am Meer. Das heißt, es ist etwas Unvereinbares. Aber für mich nicht, denn ich glaube fest daran.“ Die faktische Realität ließ sie hinter sich und beharrte darauf, das Unmögliche als eine unumstößliche Hoffnung im Herzen zu bewahren.

Als Ingeborg Bachmann 1964, kurz nach der Trennung von Max Frisch aus Österreich nach Prag reiste, vertraute sie darauf, dass nicht alles zerstört sei, dass etwas weitergehen werde. In dieser eigenen Stimmung entstand ihr Gedicht, das sich an all die Menschen richtete, die nicht müde wurden zu hoffen, auch nicht auf das Land ihrer Verheißung.

Franz Fühmann entnahm der Shakespeareschen Komödie verschiedene Motive für seine frühe Erzählung „Böhmen am Meer“, in der er Sudetendeutsche darstellte, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Böhmen nach Deutschland vertrieben und an der Ostsee angesiedelt wurden. Volker Braun schuf in den „Wendejahren“ das Theaterstück „Böhmen am Meer“. Bei Bachmann heißt es: „Ich grenz noch an ein Wort und ein anderes Land, ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr.“

Der Maler und das Meer

Frank Otto Sperlich by ReiseTravel.eu

Grenzen und Grenzüberschreitung

Um Grenzen ging es auch in der Familie von Frank Otto Sperlich. Sein Bildwerk ist sehr persönlich, denn die Themen seiner Vorfahren, die Erfahrung von Flucht und Vertreibung, das Gefühl, nicht dazu zu gehören, spürt er auf andere, ganz eigene Weise tief in seinem Inneren. Können der Epigenetik zufolge Emotionen und Gefühle auch in nachfolgenden Generationen übertragen und verankert sein.

Sein Vater, die Großmutter stammen aus Böhmen. Er selbst ist geboren und aufgewachsen in Zittau, im Dreiländereck von Polen, der ehemaligen DDR und Tschechoslowakei. In der Oberlausitz wurde der Begriff „Grenze“ zum Lebensthema vieler der dort angesiedelten Bewohner. Fast jedes Wochenende fuhr der Vater mit der Familie nicht nur durch das heimische Zittauer Gebirge, sondern häufig ging es über die Grenzen nach Polen und die damalige Tschechoslowakei. Immer wieder zog es den Vater an den Ort, von wo er und seine Familie einst umgesiedelt wurde. Mit dieser Sehnsucht wächst der Sohn unbewusst auf.

So wundert es nicht, dass Frank Otto Sperlich die Umsiedler Erzählung „Böhmen am Meer“ von Franz Fühmann aufgreift, die die in der DDR tabuisierte Thematik der deutschen Vertriebenen behandelte. Die Erzählung von Franz Fühmann hat er mit dem Gedicht von Ingeborg Bachmann in Beziehung gesetzt. Auf seinem Gemälde berühren sich Bilder, Farben, Worte, Sätze, Gedanken, Sehnsüchte der Lyrikerin, des Schriftstellers und des Malers.

Sehnsucht nach dem nie Erreichbaren?

„Für mich war da zuerst das Gedicht von Ingeborg Bachmann. Um es mir anzueignen, habe ich es immer wieder abgeschrieben. In Schönschrift, in Kunstschrift oder einfach so „hingeschmiert“ und schließlich auch gemalt. So ist die Schrifttafel auch eher als Bild zu sehen. Immer mehr wurde das Gedicht für mich zu einem Klangereignis. Der rationale Inhalt trat in den Hintergrund zugunsten der Schönheit von Sprache und Rhythmus. Es sollte letztlich meine Form bekommen: ein Guss – keine Strophentrennung. Auch die Verwendung von Versalien und kleingeschriebenen Buchstaben folgten ausschließlich meinem Gefühl.“

Auf seinem Bild finden sich Elemente aus dem Gedicht: Häuser grün, Brücken, und wieder Seeleute und Schiffe – unverankert, die böhmische Landschaft, die Schiffsaufbauten, die an die Prager Türme erinnern. Ein Schiff auf Rädern. Ein Antagonismus wie ein Böhmen am Meer. „Ahoi“ steht auf dem Schiff. „Ahoi“, der alte Seemannsgruß, ist bis heute der gängige Gruß der Tschechen. Vielleicht ein Sehnsuchtsruf des Binnenvolkes?

In Franz Fühmann‘s Erzählung „Böhmen liegt am Meer“ ist Hermine Traugott eine Umsiedlerin, die als Sudetendeutsche ihre böhmische Heimat verlassen musste. Als Dienstmagd eines deutschen Barons unehelich geschwängert, versucht sie sich während eines Ostseeaufenthaltes im Meer das Leben zu nehmen. Von den Wellen wieder an Land gespült, verstoßen, kehrt sie in die böhmische Heimat zurück. Es bleibt die Angst vor dem Meer. Nach dem Krieg die Tragödie der Umsiedlung: Dramatisch, doch die Aussiedlung ist historisch gerechtfertigt, die Tragödie ein Resultat der deutschen Gewaltherrschaft unter Führung des „böhmischen Gefreiten“ Adolf Hitler - wie ihn Hindenburg verächtlich nannte. Ist das Schiff ein Flüchtlingsschiff? Ist es die „Gustloff“ oder doch ein Hoffnungsschiff? Zu sehen ist es innerhalb der Ausstellung „Böhmen am Meer“ in der Galerie Rotklee in Putbus, die Frank Otto Sperlich mit zwei weiteren Künstlern gegründet hat.

Ruf aus weiter Ferne

Seit 11 Jahren lebt der Maler selbst am Meer, auf Rügen. In Karow, in der Nähe von Binz, erwarb er ein altes Bauernhaus. Es war das Meer, das ihn von einem Ende der DDR an das andere, an die Ostsee zog. Vielleicht ein Ruf aus weiter Ferne. Als er das Motiv „Meer und Wellen“ zu malen begann, ahnte er noch nicht, dass ihn das Thema so lange beschäftigen würde. „Ich begab mich, wie auch meine Wellen, auf eine lange Reise. Dabei ist die Sichtung des Sujets in einem steten Wandel. Um das zu verstehen, ist es notwendig, meine Herkunft zu kennen. In einer geschlossenen Gesellschaft hat man auf das Meer eben eine ganz eigene Sicht. Was liegt hinter dem Horizont? Dass es dort weiter geht, wie Udo Lindenberg singt, allein dafür muss man das Meer lieben. Das Große, Unbekannte, Geheimnisvolle, Gefährliche. Die Demut.“

Seine Heimat in der Oberlausitz verließ der Maler, wurde in Berlin sesshaft und lebt seit mehreren Jahren nun auch auf Rügen. Nie habe ihn eine der drei Heimaten losgelassen. Immer wieder fragte er sich, wo er eigentlich hingehöre. „Einen geraden Weg gehen, auf dem man aber trotzdem nicht ankommt. Ja – danach habe ich Sehnsucht. Aber ich weiß gleichzeitig, dass das niemals mein Weg sein wird. Ich suche, aber ich will nicht finden.“

Bildhafte Zeugen der Zeitgeschichte

Neugier und Interesse am Menschen sind seine wichtigsten Werkzeuge. Das Malen seiner Meeresbilder ist für ihn eine Art Meditation. Rückzug, Stille im sonst endlosen Getriebensein. Ein Ankommen vielleicht. So scheint es zumindest, wenn er mit Stift und Pinsel in seinem kleinen Atelier in der Schloss Orangerie in Putbus vor seinen Bildwerken steht. Neben den Meereswellen Motiven drängen sich immer wieder Fragen der Zeit in den Vordergrund und verlangen nach Umsetzung. Wie sein großes Thema Babi Jar. Das Massaker an den über 33 000 Juden in Kiew. Am 29. und 30. September 1941 trieb man die jüdische Bevölkerung von Kiew unter dem Vorwand der „Umsiedlung“ an eine Schlucht an den Rand der Stadt. Dort mussten sie sich ausziehen, wurden nackt durch die Reihen der Polizei getrieben, angeschrien und geschlagen. Wo man durch die Öffnung den Himmel sah, am Rande der Schlucht, wurden sie von beiden Seiten mit Maschinengewehren erschossen. „Nie wieder wird mich dieses Thema loslassen. Ein sogenanntes Bewältigen wird es nicht geben“, sagt der Künstler gedankenvoll und eindringlich.

ReiseTravel Fact: Frank Otto Sperlichs Bilder berühren, tragen Poesie und Träume in sich. Und sie sind Zeitgeschichte, soziale Lebensgeschichte, wie sie eindrücklicher nicht sein können. Es sind Zeugen, die von Wunden und Verlusten in Zeiten von Krieg und Not erzählen, aber auch von kleinen und großen Wundern, vom Fühlen und vom ewigen Sehnen.

Ein Beitrag mit Foto für ReiseTravel von Christel Sperlich

Christel Sperlich ReiseTravel.euFernsehjournalistin Christel Sperlich entdeckt gern die ungewöhnlichen Geschichten hinter dem Abenteuer Reisen. Sehr geehrte ReiseTravel User, bitte schreiben Sie uns Ihre Meinung, senden uns Ihre Fragen oder Wünsche. Vielen Dank. Ihr ReiseTravel Team: feedback@reisetravel.eu - Bitte Abonnieren Sie YouTube.ReiseTravel.eu

 

 

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