Volker Tschapke

Architektonische Spannungsbögen der Gründerzeit

Sehr geehrte ReiseTravel User, das Deutsche Kaiserreich von 1871 stand vor erheblichen gesellschaftlichen Umbrüchen. Dennoch erfasste die Notwendigkeit zu vielfältigen Neuerungen einen Bereich zunächst nicht wesentlich – den der Gebäudearchitektur. Vielmehr begeisterte man sich nach wie vor für den Historismus. Besonders das erstarkende Bürgertum forcierte eine Neo-Renaissance, Neo-Gotik oder auch Neo-Romanik und einen Neo-Barock und prägte so einen deutschen Nationalstil, den Stil der Gründerzeit. In diesem Sinne hingen Architekten und Bauherren noch dem Althergebrachten nach. Die romantische Verklärung war zudem politisch-ideologisches. Im Kaiserreich besonders interessant zu beobachten war ein sehr typisches Bauprinzip, öffentliche Repräsentationsgebäude wurden je nach Funktion häufig in einheitlichen Stilen konzipiert.

Volker Tschapke Präsident Preußische Gesellschaft Berlin-Brandenburg

Volker Tschapke Präsident Preußische Gesellschaft Berlin-Brandenburg  

So sind Museen und Justizgebäude aus dieser Zeit mehrheitlich neoklassizistisch geprägt, wohingegen bei den preußischen Reichspostämtern die Neo-Gotik und bei Opern der Neobarock dominieren. Dass 1894 fertig gestellte Berliner Reichstagsgebäude des Architekten Paul Wallot ist bestimmt durch die Neo-Renaissance.

Besonders die Reichshauptstadt wartete mit aufwendigen Bauwerken auf wie der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, 1891 von Franz Heinrich Schwechten im neo-romanischen Stil erbaut, oder dem Berliner Dom von 1894, von Julius Raschdorff wiederum im Stilmix Hochrenaissance und Barock umgesetzt. Auch das Theater des Westens oder das ehemalige Postfuhramt in der Oranienburger Straße vermitteln einen nachhaltigen Eindruck. Doch der gesellschaftliche Wandel beförderte unaufhaltsam eine neuartige kreative Bewegung - den Jugendstil. Sein zunehmender Erfolg hatte drei maßgebliche Gründe: Industrielle Produktion, Landflucht und schlicht einen neuen Zeitgeist

Im Jahr 1871 lebten 36 Prozent der Bevölkerung Deutschlands in Städten. Bis 1914 waren es bereits 60 Prozent. Die Chance auf eine Arbeit in den zahllosen neugegründeten Fabriken trieb die Menschen dorthin. Der zur Verfügung stehende Wohnraum konnte mit diesen Folgen des Wirtschaftsbooms jedoch nicht mithalten. Ganze Straßenzüge mit neuen Mietskasernen wurden notwendig. Bauherren waren Unternehmer, die die finanzierbare Unterbringung ihrer wachsenden Belegschaften selber gewährleisten mussten. Entsprechend kostengünstig sollten die Gebäude ausfallen. Zunächst fanden die in der Vergangenheit verhafteten Konzepte des Historismus, wie auch beim Bau von Privatvillen für das gutbetuchte Bürgertum, noch Anwendung.

Doch die Stunde des Jugendstils mit seiner Abkehr vom „Pompösen“ und aus der Sicht seiner Vertreter „Stillosen“ kam. Maßvolles Design und Funktionalität hielten Einzug. Zuvor noch betont großzügig eingesetztes Zierrat für Außenfassaden und Innenausstattung, durch die Industrieproduktion mittlerweile kostengünstig in großen Mengen herzustellen und entsprechend inflationär verbaut, verlor an Akzeptanz. Dieses Stilmittel hatte seinen Reiz gesellschaftlich schließlich verloren. Stattdessen begeisterte man sich am japanischen Design mit seinen klaren Linien und Strukturen. Auch wurde wieder die Naturverbundenheit in den Vordergrund gestellt und die Einheit von Körper und Geist interpretiert.

Die Zeitschrift „Berliner Architekturwelt“ stellte in ihrer Ausgabe aus dem Jahr 1903 die Spannung zwischen Historismus und Jugendstil im städtischen Wohnungsbau in einer Stilkritik klar heraus: „Die Mietskaserne ist als Tummelplatz wild gewordener Architekteneinfälle seit Jahren Gegenstand der Verzweiflung aller Freunde künstlerischer Erscheinung. Denn je mehr man glaubte, daran verzweifeln zu müssen, das einförmige Schema der inneren Raumeinteilung in der Strassenansicht erkennbar zur Geltung zu bringen, desto mehr war man bestrebt, hinter enggestelltem, aufgeklebtem Zierrat die Armseligkeit der Mauer zu verstecken. Die Stuckplastik verschwendete ihre Gaben mit jenen Reichstagsgebäuden anno 1901 Freigiebigkeit, durch welche die billigen Materialien so leicht den Maass des guten Geschmacks überschreiten. […]

Ein neues Mittel glaubte man in der Unsymmetrie gefunden, mit welcher der Villenbau zuweilen Glück gehabt hatte. Auch an dem in die Strassenflucht eingekeilten Hause wurde die glatte Mauer etwas mehr geschont als jüngst, und dafür kutschierten vereinzelte Ornamente nach dem ganz missverstandenen Prinzip des Japanismus auf der Fläche hin und her. Auch Erkerausbauten klebten zuweilen an der einen Seite des Hauses schief unter einer symmetrisch gestalteten Giebelausbildung und erhielten ein ungenügendes Gegengewicht durch breite Fenster auf der entgegengesetzten Hausecke. […]

Dann allerdings richtet sich auch wohl in Berlin mitten in der Potsdamerstrasse ein oder das andere Haus auf, das man nur aufmerksam zu studieren braucht, um die bereits vollentwickelte Formel des modernen Mietshauses klar herauszufinden. Aber häufiger und durch die Wiederholung eindringlicher wird diese Lehre verkündet in den Vierteln aller Großstädte, wo auf neuem Terrain rüstig ganze Straßenzüge in wenigen Monaten heranwachsen. Dort findet man das Haus der kommenden Epoche. Nicht immer sind diese Bauten frei von Rückfällen in den Protzstil der jüngst vergangenen Zeit. Aber der neue Gedanke richtet sich dennoch kräftig auf, ein Versprechen leistend, dass er alle Kinderkrankheiten überwinden werde.[...]“

Ein großer Architekt seiner Zeit war Johann Eduard Jacobsthal (1839-1902). Man kann ihn gleichsam als einen tragischen Helden seiner Zeit begreifen. Er schuf insbesondere im Bahnhofsbau modernste Meisterwerke wie den Bahnhof Alexanderplatz (entstanden 1881-1882). Doch entbehrten seine architektonischen Lösungen jener dekorativen Verspieltheit, wie sie noch immer dem Zeitgeist entsprachen. Er ließ sich von praktischer Vernunft leiten und gerade nicht von historischen Stilepochen. Statische wie Materialprobleme überwand Jacobsthal in aller Bescheidenheit und ohne großes Aufsehen. Somit erhielt der Bahnhof Alexanderplatz letztlich auch nicht den wohlverdienten Status eines der bedeutendsten Bauten des Kaiserreiches. In dem Maße in dem Berlin wuchs und Vor- und Nachbarorte in seinen Aufschwung einbezog, hielt insbesondere der moderne öffentliche Städtebau auch dort Einzug. Schließlich musste das Gemeinwesen dem zunehmenden Zuzug von Bürgern standhalten.

In Schmargendorf entstand vom 1. Juni 1900 bis 1. Juni 1902 ein Rathaus moderner Prägung, wenn auch noch in der Anmutung eines gotischen Festungsbaus und deutlich geschichtsbewußt. Im Hauptgiebel findet sich der märkische Adler und über den Saalfenstern das preußische Königswappen sowie die der vier über Brandenburg geherrschten Markgrafengeschlechter der Anhaltiner, Wittelsbacher, Böhmen-Luxemburger und Zollern.

Auch öffentliche Badeanstalten gaben ein treffendes Beispiel für eine Zeitenwende in den Architekturprojekten ab. In der Reichshauptstadt erkannte man zunehmend die Bedeutung körperlicher Wohlfahrt. Eine bessere Ausstattung und höhere Bequemlichkeit wurden obligatorisch. Die städtischen Gemeinwesen verschrieben sich vorbeugenden und gesundheitsfördernden Maßnahmen zur Gesunderhaltung und besseren Genesung der Bevölkerung. Der äußere Neubaustil um 1900, wie die Volksbadeanstalt Berlin-Oderbergerstraße oder das Bärwaldbad in der gleichnamigen Straße, folgte dieser Modernität wenn auch zaghaft, so doch immer mehr.

Insgesamt kommt man nicht umhin, den Architekten der Gründerzeit um 1900 ein Dilemma zu attestieren, das sehr häufig zu einem Stilmix aus Historismus und Jugendstil führte – manchmal gefühlvoll zusammengeführt, doch häufig verwirrend und konfus. Die Einschätzungen der „Berliner Architekturwelt“ von 1903 dazu sind aufschlussreich:

„[...] In einer schwierigen Lage befindet sich der Architekt unserer Zeit, weil er vor Aufgaben steht, die sich künstlerisch nicht ableiten lassen, deren profaner Zweckgedanke meist noch nicht einmal sozial präzise formuliert ist. Sein Bemühen, mittels des Verstandes Traditionen zu finden, um dem Schaffen Grundlage und Stetigkeit der Entwicklung zu geben, kann nur zu einem Archaismus führen, der sich, je nach der Art der Persönlichkeit, künstlerisch qualifiziert. [...]

Auch die edleren neuen Bestrebungen werden durch diesen Zustand der Dinge gehemmt. Mancher wohlmeinende Führer gerät, im Drange natürliche Überlieferungen nachzuweisen, in die verderblichsten Irrtümer, lässt, was in der Architektur das Schlimmste ist, die im sozialen wurzelnden Bedingungen einer modernen Profanbaukunst aus dem Auge und idealisiert die Aufgaben der Zeit nach falscher Richtung hin. […] Gerade von der Stadtarchitektur hängt die Zukunft unserer Baukunst ab und hier fehlt es am meisten an einer Tradition, die dem Künstler Führerin sein könnte. […]

Es kommt also darauf an, einen Ausgangspunkt nicht willkürlicher Art zu suchen, einen Weg, auf dem sich die wachgebliebenen Überlieferungen wie von selbst dem Schaffen zugesellen können. […] Bezeichnend für den stilmüden Sinn des modernen Menschen ist es, dass zu ihm primitive Gerüstarchitekturen, Ruinenmonumentalität und phrasenlose Zweckkonstruktionen mehr sprechen, als alle noch so feinsinnigen Nachbildungen historischer Stile. Man hat diesen Vorgang dekadent genannt. Doch das ist nichts als ein Wort, erfunden um damit zu operieren. Die Kunstgeschichte kennt keine Dekadenz, denn jedes Ende wird in ihr zum Anfang. […]

Mann stelle sich vor, Sinn und Unsinn gegenwärtiger „Glaspaläste“ öffentlich zur Diskussion zu stellen. „Geringer Bauaufwand“, „ressourcen- und kostenschonend“, „Ausdruck einer modernen Kommunikationsgesellschaft“ würden die Traditionalisten zum Besten geben. Und die Befürworter eines radikal neuen Architekturstils würden wahrscheinlich entgegnen, heutige Gebäudearchitektur sei nicht umweltnah genug, hätten ein emotionsloses kaltes Design oder spiegeln keinerlei kulturelle Identität wider. Vermutlich ist eine solche Diskussion nicht mehr fern, und die sich anschließende Entwicklung …, nun ja, erinnern wir uns an die Gründerzeit.

Was hätte der „Alte Fritz“ wohl dazu gesagt

Es ist allgemein bekannt, dass verschiedene preußische Kronprinzen und Könige bei der Gestaltung von Gebäuden, Denkmälern oder Parkanlagen gerne auch selbst schöpferisch mitwirkten. Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795-1861) beispielsweise wurde nicht müde, seinem bevorzugten Architekten und Schöpfer des preußischen Stils Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) Skizzen zu Sakralbauten, Skulpturen und Ornamenten vorzulegen.

Auch Friedrich II. verfügte über ein ausgeprägtes Verständnis für Kunst und Architektur. Und auch er hatte einen begnadeten Architekten an seiner Seite – seinen Freund Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699-1753). Der von Knobelsdorff und dem königlichen Baudirektor Friedrich Wilhelm Dieterich zu verantwortende Bau des Weinberg-Schlosses Sanssouci geht entscheidend auf zwei detaillierte Skizzen Friedrichs zurück. Skizze eins beinhaltet das Schloss mit Kolonnaden, Gewächshäusern und Gartenanlage inklusive Fontänen. Die zweite Skizze widmet sich dem Innenausbau des Schlosses.

Weitere Höhepunkte seiner gestalterischen Schaffenskraft wurden das Zedernholzkabinett im Potsdamer Stadtschloss, die Bibliothek in Sanssouci sowie der Weiße Saal im Schloss Charlottenburg. Friedrich war sich bewusst, dass in einer Welt konkurrierender royaler Mächte und Herrschaftsansprüche repräsentative Gebäude unerlässlich waren, welche die herrschende Dynastie sowie den allgemein prägenden Stil der Zeit erkennen ließen. Eine Fahrt „Unter den Linden“ entlang zum einstigen „Forum Fridericianum“ zeugt noch heute von seiner erfolgreichen Umsetzung dieser Maxime. In einer Gedächtnisrede anlässlich des Todes seines Freundes Knobelsdorff in der Königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften (1754) sagte er: „Man wundert sich nicht, einen Maler und großen Architekten unter Astronomen, Mathematikern, Physikern und Dichtern sitzen zu sehen. Künste und Wissenschaften sind Zwillingsgeschwister. Ihre gemeinsame Mutter ist das Genie […].“

Zu Recht ging die Regierungszeit des Monarchen mit der nach ihm benannten Periode des Friderizianischen Rokoko einher, sowie er ebenso zu Recht als Friedrich der Große in die preußisch-deutsche Geschichtsschreibung eingegangen ist.

Zitat des Monats: „Der Architekt ist seinem Begriff nach der Veredler aller menschlichen Verhältnisse. Er muss in seinem Wirkungskreise die gesamte schöne Kunst umfassen. Plastik, Malerei und die Kunst der Raumverhältnisse nach Bedingungen des sittlichen und vernunftgemäßen Lebens des Menschen schmelzen bei ihm zu einer Kunst zusammen.“ (Karl Friedrich Schinkel, preußischer Architekt)  

Sehr geehrte ReiseTravel User, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Den Geburtstagskindern preußisches Fortune und alles Gute im neuen Lebensjahr, den Erkrankten baldige Genesung

Pro Gloria et Patria

Gott befohlen 

Volker Tschapke  

Präsident Preußische Gesellschaft Berlin-Brandenburg

Preußische Gesellschaft Berlin-Brandenburg e.V. c/o Hilton Berlin

Mohrenstrasse 30, D-10117 Berlin, Telefon: 030 – 2023 2015, www.preussen.org

 

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