Kassel

Alle 33 Sekunden stirbt ein Mensch in Deutschland. 108 jede Stunde und fast 955.000 jedes Jahr. Der Tod betrifft uns alle: Schon vor unserem eigenen Tod macht er uns als Hinterbliebene zu Betroffenen!

Trauer: Die Gestaltung des Grabes hat einen großen Einfluss darauf, ob die Hinterbliebenen ihre Trauer bewältigen. Individualität ist ein Megatrend und beeinflusst zunehmend auch die Gestaltung der eigenen Bestattung. Aus ihrer Trauer eine unbelastete, schöne Erinnerung machen können. Die Hinterbliebenen sollten also mitentscheiden können!

Millionen trauern: Sind wir richtig darauf vorbereitet, sodass Trauer auch heilsam sein kann?

Wie gehen wir als Gesellschaft mit unserer Trauer um, wie werden wir am besten mit unserer Trauer fertig?

Müssen wir in Zeiten der Individualisierung nicht auch unseren bisherigen Umgang mit dem Tod ändern, individuelle Möglichkeiten der Trauer ermöglichen?

Wohin kann ich mich mit meiner Trauer wenden?

Die Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e. V. will jetzt mit einer neuen Initiative Antworten und Denkanstöße geben.

Tod und Trauer sind in der Gesellschaft in vielen Bereichen immer noch tabu, viele sind darauf nicht vorbereitet, viele damit allein. Es braucht eine neue, respektvolle, öffentliche Diskussion darüber, wie eine heilsame Trauer besser gelingen kann – wie aus ihr eine unbelastete Erinnerung werden kann. Was muss sich dafür verändern?

Dr. Dirk Pörschmann ist Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e. V. und Direktor von Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur in Kassel: „Trauer ist etwas, über das wir ungern sprechen, aber sie geht uns früher oder später alle an. Wir möchten zu einer heilsamen Trauerkultur anregen, die die Hinterbliebenen in den Mittelpunkt rückt. Um heilsam trauern zu können, brauchen wir echte und lebendige Orte, die Raum für individuelle Rituale bieten, und wir brauchen die Bereitschaft, Trauernden mit einem offenen Herzen zu begegnen. Mit unserem Onlinemagazin trauer-now.de wollen wir Inspirationen geben, wie der Abschied von geliebten Menschen wahrhaftig, würdevoll und heilsam gelingen kann.“

Er nennt ein Beispiel für Dinge, bei denen die Trauer besser gestaltet sein könnte: „So brauchen Menschen beispielsweise Orte, an denen sie mit ihrer Trauer so frei umgehen dürfen und können, wie es ihnen gut tut. Dazu muss die Welt der Friedhöfe nicht völlig neu erfunden werden. Aber Menschen benötigen auf dem Friedhof Beisetzungsorte, die einen positiven, einen lebendigen Trauerprozess ermöglichen, und an dem sie individuelle Trauerhandlungen durchführen können, ohne auf Grabpflege verpflichtet zu werden.“

Alle 33 Sekunden stirbt ein Mensch in Deutschland by ReiseTravel.eu

Individualität beeinflusst auch die Gestaltung der eigenen Bestattung.

Studien von Matthias Horx (Zukunftsinstitut) und der Universität Passau zufolge sollte man jedoch bedenken: Die Gestaltung des Grabes hat einen großen Einfluss darauf, ob die Hinterbliebenen ihre Trauer bewältigen, aus ihrer Trauer eine unbelastete, schöne Erinnerung machen können. Die Hinterbliebenen sollten also mitentscheiden können! Das betrifft uns alle.

Nicht der Tod ist in der modernen Gesellschaft tabuisiert, sondern die Trauer als eine Störung ökonomischer und sozialer Routinen.

Lange Zeit wurde die öffentliche Debatte von einer kulturpessimistischen Litanei der Verdrängung des Todes bestimmt, die die moderne, individualisti­sche Gesellschaft mit sich bringt. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Tod und Vergänglichkeit rücken wieder ins Blickfeld einer neuen Auseinander­setzung. Das Spektrum der differenzierteren Betrachtung einstiger Tabus reicht von einer intensiver denn je geführten Diskussion um Sterbebegleitung, Palliativmedizin und Freitod bis hin zur Frage, wie wir unsere Formen und die Rituale des Abschieds neu gestalten können. Die heutige Bestattungs- und Trauerkultur ist zwar vielschichtiger geworden, wirklich passende Antworten darauf, sensibel und nachhaltig funktionierende Angebote bietet die Friedhofs­welt jedoch bislang kaum.

Die Pluralisierung der Beisetzungsformen, die wir erleben, ist nicht nur Er­gebnis des Individualisierungstrends, sondern zugleich vielfach Ausdruck einer persönlicher gestalteten Erinnerungsvorsorge. Und doch verfehlen sie bisher häufig ihr Ziel und ihre Wirkung. Trauer wird immer noch allzu oft als Ausnahme­zustand betrachtet, den es schnellstmöglich zu beseitigen und abzuwickeln gilt. Trotz mancher Fortschritte bekommen daher individuelle Trauerhandlungen immer noch nicht den Platz in der Öffentlichkeit, den sie brauchen, damit Trauer­bewältigung wirklich gelingt, statt nur eine Trauerverdrängung zu erreichen.

In den nächsten Jahren wird der öffentliche Diskurs zu vielen Aspekten des Lebensendes eine neue Stufe erreichen. Auch hierzulande wird der Werte­wandel weiterhin dazu führen, dass Menschen künftig mit ihrer Trauer anders umgehen wollen, als es die über Jahrhunderte eingeübte gesellschaftliche Pra­xis ist oder die Verwaltungsbürokratie es vorschreibt. Das schließt ein selbst­bestimmtes Handeln bei der Art der Bestattung und der Trauerformen ein.

Statt sich vor Veränderungen zu fürchten und gegen den Wandel anzu­kämpfen, sollte besser auf die damit verbundenen Chancen geschaut werden. Eine zukunftsweisende Trauerkultur zu gestalten, die heilsame Abschiede ermöglicht, bedeutet sich auf das zu besinnen, worum es eigentlich geht: die Bedürfnisse der Menschen, der Verstorbenen – aber mehr noch der Hinter­bliebenen und Angehörigen.

Trauerrituale sind tröstliche Wiederholungshandlungen. Sie reduzieren Ängste und geben Stabilität in einer neuen Realität. Um den Verlust von Menschen zu verarbeiten, die Nähe und Verbundenheit mit dem Verstorbenen zu spüren, um der Liebe und der Zuneigung gegenüber dem Verstorbenen Ausdruck zu verleihen, sind Trauerhandlungen daher von elementarer Bedeutung. Diese Emotionen zuzulassen, ihnen Zeit und Raum zu geben, ist extrem wichtig. Erst so werden Trauerhandlungen zu heilsamen Handlungen. Durch sie realisieren Menschen erst die Möglichkeit, ohne den Verloren gegangenen Menschen weiterleben zu können. Wenn Trauernde diesem Grundbedürfnis nachkommen können, hat dies eine positive Wirkung auf ihre Trauerbewältigung. Den Tod in einem emotional positiven, weil empathischen und achtsamen Umfeld zu realisieren und sich zu vergegenwärtigen, lässt die Bearbeitung der Trauer zu. So wird eine positive Transformation im Trauerprozess möglich.

In dem Maße, wie eine neue Vielfalt der Beisetzungsformen und der Trauerrituale die Bestattungskultur prägt, wächst auch die Suche nach Orientierung. Umso mehr sind Empathie und Achtsamkeit, vertrauensvolle Be­ziehungen, soziale und psychologische Kompetenzen gefragt. In der sensiblen Inszenierung von individuellen Begräbnissen sowie von Beisetzungsformen und -orten liegen große Chancen für die Aufwertung des Abschiednehmens – als soziales Ereignis, das den Verstorbenen würdigt, aber auch für einen heilsamen Abschied der Angehörigen. Damit wächst die Bedeutung von Bestattern als Kuratoren, die die jeweils passende Form der Beisetzung entwickeln.

Trauer bedeutet, die Vergangenheit zu würdigen und die Zukunft zu ermög­lichen.

Es gibt kein Leben ohne Abschiede und keine Lebendigkeit ohne die Erfahrung von Verlust und Wandel. Die Krise der Trauerkultur ist somit auch eine Krise der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft.

Trauerhandlungen sind ein ganz zentrales Mittel der Aktualisierung von persönlicher Nähe zum Verstorbenen. Neben sozialen Bindungen und Netz­werken hat der Ort der Beisetzung dafür wie zur Bewältigung der Trauer ins­gesamt eine hohe Bedeutung. Sie nimmt zwar mit dem Prozess des Übergangs hin zum Gedenken tendenziell ab. Dennoch hat die Verortung für das Gefühl der Nähe eine ganz zentrale Funktion für die Hinterbliebenen.

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Beisetzungsorte können Erinnerungen an den Verstorbenen bewusst herbeiführen. Auf diese Weise wird eine besondere Nähe, ein Gefühl der Ver­bundenheit geschaffen, das Trauernden erlaubt, mit den Verstorbenen zu „kom­munizieren“ und somit die Verbindung zu Verstorbenen aufrechtzuerhalten. In dieser Aufrechterhaltung einer Verbindung oder Beziehung mit dem Toten liegt die Möglichkeit, die innere Leere zu füllen, aber auch mit sich und dem Verstorbenen ins Reine zu kommen. Sie wird zur Grundlage für einen inneren Zukunftsoptimismus.

Dabei ist die Unterscheidung zwischen Trauer und Gedenken sehr wichtig: Gedenken findet statt, wenn der Trauerschmerz überwunden ist, man sich aber erinnern möchte. Gedenken folgt jedoch anderen Prinzipien: Anders als bei der Trauer kann das Erinnern an Verstorbene auch etwas Leichtes haben. – Diese Leichtigkeit, diese Erlösung von der Schwere der Trauer ist etwas, was auf unseren Friedhöfen hierzulande bislang kaum gelingt.

In unserer durch Individualisierung gekennzeichneten Gesellschaft werden persönliche Handlungen am Grab zu einem menschlichen Grundbedürfnis, weil sie eine positive Wirkung auf Trauernde und für die Trauerbewältigung haben. Individualisierung, aber auch Mobilität und neue Formen der Spiritualität er­zeugen die Suche nach neuen Ritualen, anderen Begegnungen und erneuerten Orten des Abschieds. Mit zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung wächst so die Vielfalt in der Trauerkultur. Sie zeigt sich sowohl in individuali­sierten Handlungen als auch in traditionellen Ritualen. Das Ergebnis ist eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, neuer und alter Praktiken, die sich aber auch gegenseitig beeinflussen. So finden immer mehr individuelle Handlungen auch bei kirchlichen Begräbnissen statt und umgekehrt spielen natürlich religiöse Symbole eine weiterhin wichtige Rolle, auch wenn beispielsweise die Natur im Falle von Beisetzungswäldern als Ort der Bestattung gewählt wird.

Dass das Image heutiger Friedhöfe alles in allem eher schlecht ist, hat insbesondere einen Grund: Sie sind eben kein Raum, der Freiheiten und individuelle Trauermöglichkeiten zulässt. Friedhöfe, wie wir sind heute kennen, sind vielmehr Orte, die mit Regeln, Verpflichtungen und Verhaltenserwartungen verbunden werden. Darum assoziiert man mit ihnen vielfach ungute Gefühle der Angespanntheit und des Konformitätsdrucks. Demgegenüber erscheinen alternative Bestattungsformen auf den ersten Blick oft als Ausweg und als Lösung, um von Druck und Verpflichtung wie der Grabpflege zu befreien. Doch dieses Modell funktioniert nur sehr eingeschränkt, da auch die Angebote alter­nativer Formen bislang oft keinen oder nur wenig Platz für individuelle Trauerhandlungen zulassen, sie erschweren oder deutlich reglementieren.

Vor allem Friedhöfe werden daher ihrer gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung zur Bewältigung der Trauer nicht gerecht. Als Beisetzungs- und Gedenkorte verfehlen sie bisher weitgehend ihr Potenzial für die Selbstwirk­samkeit der Menschen in einer gelingenden Trauerarbeit.

Trauer hat kein finales Ende, auch wenn der Schmerz über die Zeit nachlassen und das Leben im besten Falle neue Wege einschlagen kann. In der kollektiven Wahrnehmung wird der Trauerprozess jedoch meistens als ein temporäres Er­eignis und als Ausnahmezustand verstanden, der nicht nur irgendwann vorbei sein, sondern idealerweise möglichst schnell überwunden und abgeschlossen werden soll.

Das führt zu problematischen Bewertungen und Erwartungshaltungen: Wenn jemand nach einem halben Jahr der Trauer über den Verlust eines nahe­stehenden Menschen „noch immer nicht hinweggekommen ist“, wird dies oft als Alarmzeichen gedeutet, als Hinweis auf psychische Belastungen oder gar auf eine Depression. In unserer von Leistungsprinzipien geprägten Gesellschaft streben Menschen daher auch nach dem Verlust von Angehörigen oft allzu schnell nach Stabilität und Selbstkontrolle. Der Trauernde wiederum scheint wenig verfügbar für die eigenen Kommunikationsinteressen und für die Krite­rien des klassischen Funktionierens. Dieser Umgang ist fatal. Denn es sind vor allem Gespräche mit Freunden und Verwandten über den Verlust, die während der Trauer um den Verstorbenen am meisten helfen – ganz gleich wie lange dieser Prozess dauern mag.

Doch zunehmend entwickelt sich als Gegentrend zu dieser Verkürzung eine Idee des Wege-Gehens, in der Trauer als ein integrativer Teil des ganzen Lebens betrachtet wird: Wir existieren immer in Abschieden und Verabschiedungen. Das heißt, jedoch nicht, dass uns etwas fehlen muss. Im Gegenteil: Gerade die Begegnung mit dem, was verloren gegangen ist, und die aktive Auseinandersetzung mit dem Schmerz wird auf diese Weise sukzessive zum heilsamen Prozess.

Matthias Horx. Der Trend- und Zukunftsforscher widmet sich in seiner langjährigen Arbeit zu Transformationsprozessen in Gesellschaft und Wirtschaft immer wieder auch Untersuchungen und soziologischen Fragestellungen zum Wandel der Trauer-, Bestattungs- und Friedhofskultur, bedingt durch die großen Trends der gegen­wärtigen Epoche wie der Individualisierung und den Wertewandel.

Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V., Weinbergstraße 25, D-34117, Kassel, www.trauer-now.de

Tobias Blaurock, blaurock Markenkommunikation. Hechtstraße 30, D-01097 Dresden. www.blaurock-markenkommunikation.de

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