Kairo

Ngar – Textilverkäufer in Sharm El-Sheikh

Tausende sonnenhungrige Urlauber besuchen jährlich den Badeort Sharm El-Sheikh auf der Halbinsel Sinai in Ägypten. Einer der drei Stadtteile ist die Na’ama Bay, ein Treffpunkt für Taucher und Schnorchler, Souvenirjäger und Vergnügungssüchtige.

Mittendrin: Textilverkäufer Ngar

Die Na’ama Bay in Sharm El-Sheikh ist ein künstlicher, nach europäischen Maßstäben geschaffener Ort für Touristen – quirlig, glitzernd und pulsierend an der Oberfläche, angetrieben von einem Motor aus Geschäftemacherei im Inneren. Hotelkomplexe, Strandbars, Tauchstationen, Restaurants und Filialen von Fastfoodketten, Einkaufspassagen und Souvenirläden reihen sich aneinander wie Hieroglyphen auf einem altägyptischen Relief. Inmitten der unzähligen Hieroglyphen befindet sich das Reich von Ngar.

Der 27jährige, Schwarzgelockte und scheinbar immer gut gelaunte Textilverkäufer stammt aus Qurna, einem Dorf nahe Luxor und den Königsgräbern. Vor zwei Jahren ist Ngar in die Na’ama Bay gezogen und hat seine Mutter mit den beiden Schwestern im Dorf zurück gelassen. Inzwischen sind die Schwestern zum Glück verheiratet und haben Männer, die für sie sorgen. Stolz regiert Ngar einen kleinen Laden mit bis unter die Decke aufgetürmten Tüchern, Stoffen und Kleidern. Hinter einer verschlissenen Holztheke, die als Verkaufstresen dient, steht ein Paar ebenso verschlissener Schuhe mit hinein gestopften Socken. Grinsend erklärt Ngar, dass das seine „Feierabendtreter“ seien und dass die Freizeit knapp bemessen ist. Wozu also bessere Schuhe kaufen? Viel lieber schickt er das Geld seiner Familie. Seine Mutter wurde von ihrem Mann verlassen, als Ngar fünf Jahre alt war. Die Kindheit von Ngar bestimmten Armut, Arbeit und Unsicherheit. In Ägypten wird jeder vierte Haushalt laut Unicef von einer allein erziehenden Mutter geführt. Rund zwei Millionen Kinder zwischen sechs und 14 Jahren arbeiten, oft unter schwersten Bedingungen, um ihre Familie zu unterstützen. Ngar und seine Schwestern bastelten Figuren aus Lehm und verkauften diese an Touristen vor den Königsgräbern als angebliche Grabbeigaben. Sie priesen die Püppchen lauthals als „antik, antik“ und kurbelten so ihren Absatz an. Für die Schule fehlten Geld und Zeit. Doch über soziale Absicherung, Politik oder Zwangsehen möchte Ngar nicht sprechen. Er betrachtet sich selbst als einen Mann, der es geschafft hat, der unabhängig ist. „Es ist besser, Stück für Stück reich zu werden. Man verliert nicht den Boden unter den Füßen.“, vermutet er nachdenklich, auf seinem Verkaufstresen hockend und auf seine „Feierabendtreter“ starrend.

Ein Kollege bringt Ngar Kundschaft von draußen herein. Er bedeutet durch ein Zeichen, dass es sich bei dem offenbar gut situierten Ehepaar um Deutsche handelt. Ngar verändert sich von einer Sekunde auf die andere. Er springt auf, wirbelt kerzengerade herum wie ein Derwisch und entert seine Bühne. „Ali Baba, willkommen in meinem Reich!“ Er verneigt sich vor dem Mann. Das Paar interessiert sich für zwei bunte Schals, „typisch ägyptisch“ mit Ornamenten bestickt. Ngar ist in seinem Element. Er faltet Tücher auf und wieder zusammen, lässt die Dame fühlen und anprobieren und zwinkert dem Mann mehrmals schelmisch zu, als sie über den Preis diskutieren. Er achtet darauf, dass sich Ali Baba stets wohl in seiner Rolle als exzellenter Feilscher fühlt. Feilschen gehört zu jedem guten Einkauf, so erläutern es die Touristenführer. Am Ende darf die Gattin fünf statt zwei Schals aussuchen, der Mann bezahlt brav und zur Belohnung gibt es einen kakadee im Plastikbecher, einen süßen Tee aus Hibiskusblüten. Ngar hat sich daran gewöhnt, dass in Europa meist die Frauen in den Ehen die Hosen an haben, aber es amüsiert ihn immer noch köstlich. Er genießt seinen Auftritt als sympathischer und großzügiger Gastgeber im kleinen Laden.

Ngar kann zwar weder lesen noch schreiben, aber er spricht neben einem passablen Englisch auch Deutsch und Französisch. Laut lachend erzählt er, dass er gerade Russisch lernt. Von jeder Sprache eben gerade soviel, wie er für sein Geschäft benötigt. „In Na’ama Bay dreht sich alles ums Business. Business ist überall. Selbst wenn ich hier einen Bruder hätte, würde ich nur geschäftlich mit ihm verkehren.“ Doch Fragen zu Verdienst, Provisionen oder gar Korruption bleiben unbeantwortet. 500 Euro verdient eine im Management angestellte Gästebetreuerin in einem Hotel monatlich. Die Arbeitszeit beträgt sechs Tage pro Woche à neun Stunden täglich. Es ist nicht schwer auszurechnen, wie viel Lohn einem einfachen Verkäufer wohl bleibt.

Ngar hat sein eigenes Appartement, wie er es nennt, arbeitet zwei bis drei Monate am Stück täglich 14 Stunden und verbringt dann 15 bis 20 freie Tage in Qurna.

Attraktiven weiblichen Gästen in Na’ama Bay stellt er sich als Single vor und flirtet gern. In Qurna leben jedoch seine Frau und seine sechs Monate alte Tochter Fatma. Er ist nicht wie andere in seinem Dorf in einer Großfamilie aufgewachsen, meint er, und er möchte auch höchstens zwei weitere Kinder haben. Seine Kinder sollen eine gute Schulausbildung bekommen und dafür arbeitet er hart. Er liebt seinen Job. Es macht ihm einzig und allein zu schaffen, dass sein Umsatz absolut von seiner eigenen Freundlichkeit und Aufmerksamkeit abhängt. Fühlen sich die Touristen nicht umschmeichelt, dann kaufen sie auch nichts, das ist ihm klar. „Aber ich habe Wege gefunden, um freundlich zu sein, und manchmal fliege ich durch den Tag.“, flüstert er hinter vorgehaltener Hand, während sein Telefon eine eingehende SMS anzeigt. Hektisch flitzt Ngar hinaus in die Einkaufsmeile, um sich die Nachricht vorlesen und eine Antwort tippen zu lassen. Treu ist er nur seiner Mutter, mit der er jeden Tag telefoniert.

Es ist 24.00 Uhr als Ngar seinen Arbeitsplatz verlässt und voller Vorfreude, fast euphorisch nach draußen in die Oberflächlichkeit der Na’ama Bay und zum Rendezvous mit der Verfasserin der SMS stürmt. 

Von Tina Stengle 

Die junge Autorin des ReiseTravel Beitrages arbeitet in der Hotel-Branche.

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