Ostfriesland

Kirchen Hopping hinterm Deich, jenseits von Meer und Strandkorb, bilden „Höhepunkte“ im hohen Norden: Ostfrieslands Kirchen sind Inseln der Ruhe auf dem platten Land!

Nirgendwo in Deutschland stehen so viele Kirchen auf engstem Raum wie in der ostfriesischen Krummhörn: Die von Friedhöfen und dichtem Grün eingebetteten Kostbarkeiten aus Stein sind „Höhepunkte“ in verträumten alten Dörfern. Keine Hektik, kein Lärm. Nicht Laptop oder Handy bestimmen das Tagesgeschehen, sondern die Glockenschläge über geduckten Backsteinhäusern.

Meistens lassen eilige Reisende auf dem Weg an die Nordseeküste die Inseln der Ruhe und Beschaulichkeit am Straßenrand liegen. Wer den Fuß vom Gaspedal nimmt und nach Pilsum, Groothusen oder Rysum abzweigt, steht bald vor einem der mächtigen mittelalterlichen Gotteshäuser – und zunächst vor verschlossener Tür.

Groothusen

Kirchen Hopping by Manfred Laedtke ReiseTravel.eu

Bis an die Rückfront der Kirche in Groothusen klatschten vor rund 500 Jahren die Nordseewellen. Ist die Kirche verschlossen, schließt der Pastor oder Kirchendiener aus dem Nachbarhaus auf.

„De Sleudel haad de Pastor in Hus“ (den Schlüssel hat der Pastor im Haus), ruft ein Pilsumer Dorfbewohner und stellt fest: „Bi uns is ahlns en bietje anners“ (bei uns ist alles ein bisschen anders). Dann fügt er trocken hinzu: Der Tee schmecke würziger, das Bier herber und die Luft salziger. „Ach jo“, lächelt der Mann freundlich, steigt auf sein Fahrrad und tippt sich an die schwarze Skippermütze: Wenn beim Pastor zu ist, dann sei der Schlüssel beim Küster. Vielleicht auch beim Lehrer, oder beim Malermeister ...

Wie fast alle Kirchen in diesem Zipfel „ganz oben links“ auf der Landkarte von Deutschland steht die stattliche Kreuzkirche von Pilsum in der Mitte einer Dorfwarf, den Fluchthügeln bei Sturmfluten. Weil jedes Dorf seine eigene Kirche beanspruchte, boomte im 13. Jahrhundert der Kirchenbau. Zwar waren die ebenso starrköpfigen wie stolzen Friesen auf ihre Freiheit und Unabhängigkeit bedacht und lehnten Adelsherrschaft und weltlichen Schutz ab, auf himmlischen Beistand wollten sie aber nicht verzichten. Mit ihrem Kreuzgrundriss und massiven, eckigen Turm sei die Kirche der eindrucksvollste Sakralbau und das Wahrzeichen der Krummhörn, erklärt der Küster stolz, während er die schwere Holztür öffnet.

Wow!! Das weite, schnörkellose Innere vermittelt den Eindruck von einem Architekturmix aus Gotteshaus und Wehrturm. Dorfbewohner nutzten im Mittelalter den Bau als Beethaus und Trutzburg, berichtet der Kirchendiener weiter. In den rustikalen Hügelkirchen suchten Menschen Zuflucht vor Sturm, Wasser und Piraten. Die Türme wiesen nicht nur Gläubigen, sondern auch Seefahrern und allerlei Gesindel den Weg.

 Ein zeitnahes Seezeichen wacht zwei Kilometer querfeldein auf der grünen Deichkrone. „Teebüchse“ nennen Einheimische den Otto-Leuchtturm mit seinen rot-gelben Ringeln. Von dem beliebtesten Fotomotiv der Krummhörn reicht der Blick über das Watt bis zur Insel Memmert. Am schönsten ist eine Fahrrad- oder Autotour vom Deich bis nach Pilsum, wenn die untergehende Sonne den Kirchturm in rosa-violettes Licht taucht.

Zeit für ein „Friesendinner“. Ländliche Spezialitäten und weithin unschlagbare, mit Spinat und Schafskäse, gefüllte Teigwaren stehen gleich um die Ecke im „Alten Brauhaus“ auf der Speisekarte.

Fünf Autominuten weiter wartet Groothusen, eines der ältesten Dörfer in der Krummhörn. Das lang gestreckte Kirchenschiff der protestantischen Glaubensburg ist weiß getüncht, das Graublau der Holzdecke korrespondiert mit dem matten Blaugrün der alten Bänke. Das Sonnenlicht, das durch die Kirchenfenster blinzelt, verleiht der auf Zweckmäßigkeit reduzierten Innenarchitektur etwas Heiter-Mediteranes.  Der von einer früheren Kirche übrig gebliebene Turm hat ein wenig Schlagseite und „lehnt“ sich an den 600 Jahre alten gotischen „Neubau“ an.

Wie kühn die Konstruktion freistehender Glockentürme auf dem heute immer noch unsicheren weichen Marschboden war, zeigt der bedenklich windschiefe Kirchturm im benachbarten Suurhusen. Messungen hatten Anfang der 90er Jahre ergeben, dass die aus dem Lot gewichene Suurhusener Sehenswürdigkeit knapp fünf Millimeter schiefer sei als ihr Konkurrent in Pisa.

Groothusen hatte als ehemaliger Handelsplatz nahe am Wasser gebaut. Wo gerade ein paar Touristen über knirschende Muschelwege spazieren und der Stille auf dem Kirchenhügel lauschen, wo ein Pärchen im hohen Gras versucht, mit den Augen vorüberfliegende mächtig getürmte Wolken am endlosen Himmel festzuhalten, und wo im Frühjahr ein Meer aus Raps blüht, klatschten vor einem halben Jahrtausend Nordseewellen an das Ufer. Manchmal gesellte sich wildes Säbelrasseln hinzu. Als einflussreiche Häuptlingsfamilien sich in die Haare gerieten, ruhten Schaufel und Kelle für den emsigen Kirchenbau. Die Manningas, tom Broks und Cirksenas zogen sich zurück in eigene kleine Burgen.  Von den drei Häuptlingssitzen in Groothusen hat nur die Osterburg raue Zeiten überlebt.

Ein paar Schritte vom Dorfzentrum entfernt wird in dem hufeisenförmigen Flügelbau Friesengeschichte lebendig. Von einem Burggraben eingekreist befindet sich in der Mitte das schlicht-vornehme Herrenhaus mit der zum Wohnraum umgebauten Scheune. Hausherr hinter meterdicken Mauern ist Enno Kempe. Der Nachfahre einer vor 300 Jahren eingewanderten Familie ist heute Landwirt ohne Landwirtschaft. Die Osterburg ist sein Beruf. Nach einem „Empfang“ in der großen, guten Stube von Gisela Kempe, führt der Hobbyhistoriker Besucher durch ein Zimmer mit goldfarbenen Ledertapeten, einen prachtvollen Speisesaal, durch die stattliche Bibliothek und Ahnengalerie.

Aus einem großen Fenster schweift der Blick über blühende Hortensienbüsche in den Burggarten mit gespenstisch anmutenden Steinfiguren. Schwer vorstellbar, dass der herrschaftliche Park in der waldarmen friesischen Marsch so nahe der Küste gedeihen konnte.

Im „runden Rysum“ herrscht Kreisverkehr. Alle Straßen und Gassen liegen wie Ringe um die von Baumriesen eingegrünte Kirche. Karg und schlicht ist das Innenleben der Rysumer Kirche, keine Inszenierung von christlichem Pomp und kirchlicher Völlerei. Beim Bildersturm, der in der Reformationszeit gnadenlos durch die prunkvoll dekorierten einst katholischen Kirchen und Klöster fegte, haben die Friesen kostbare Altäre, Taufbecken und geschnitzte Altäre verschont. Aus mehr als 300 Orgeln tönten die himmlischen Klänge über das Land im hohen Norden, das einmal zu den reichsten Orgellandschaften der Welt zählte. Heute jubilieren hinterm Deich noch sechs gotische Instrumente, das älteste davon in Rysum. Einer Chronik zufolge hatte die Kirchengemeinde vor 500 Jahren die Originalorgel mit „ere vette beeste“ (ihrem fetten Vieh) bezahlt.

Greetsiel

Kirchen Hopping by Manfred Laedtke ReiseTravel.eu

Mitten im Fischerdorf Greetsiel steht die im 14. Jahrhundert gebaute Kirche mit freistehendem Glockenturm.

In einer Stunde beginne in der Kirche wieder ein Orgelkonzert, verrät ein Dorfbewohner. Zeit genug zu überlegen, das Kirchen-Hopping mit einer Musikpause zu unterbrechen, mit einer Rast unter schattenspendenden Linden zu beenden oder weiter zu fahren auf der „Kirchenroute“ nach Eilsum, Uttum und Loquard. Der Dorfbewohner rät zu einem Spaziergang durch das einst wegen seiner „Spökenkiekerei“ (Wahrsagerei und Spuk) bekannte Rundwarfendorf und ruft: „Kiek mol wedder in!“

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„Wer so etwa die Normalgröße von 1,75 Meter hat und geradeaus blickt, der sieht höchstens ein Fünftel Land und vier Fünftel Himmel ...“ stellte Henri Nannen fest. Meistens stellen sich aber auch noch mächtige Kirchtürme in das Blickfeld.

Insgesamt 19 Gotteshäuser stehen in  der Krummhörn. Zu den sehenswertesten zählen die Kirchen in Campen, Freepsum, Greetsiel, Groothusen, Loquard, Pilsum, Rysum, Suurhusen und Uttum. Alle Kirchen liegen in einem Umkreis von nur 20 Kilometern und sind über beschilderte Fahrradwege oder schnell mit dem Auto erreichbar. Wer einen Brotkorb mitnimmt oder vor einem der versteckten kleinen Einkaufsläden Halt macht, kann den Ausflug zu den stillen Plätzen mit einem romantischen Picknick unter blauem Himmel nutzen.

Anreise: Mit der Bahn ab 29 Euro bis Norden. Von dort verkehrt ein Bus nach Greetsiel.

Auskünfte: Jedes Jahr im September findet eine Krummhörner Kirchturmtour statt. Die Radtour geht über rund 65 Kilometer. Anmeldungen sowie Informationen auch zu weiteren Kirchen- und Burgführungen sowie Ferien hinterm Deich: www.greetsiel.de und www.ostfriesland.de

„Der schiefste Turm der Welt“: Führungen montags bis samstags 10 bis 12 und 15.30 bis 17.30 Uhr. Nach Vereinbarung: +04925-525 sowie kirchenfuehrung-suurhusen@gmx.net

Kleine Abstecher für Gourmets sind das „Witthus“ mit raffinierten Fischspeisen sowie das historische „Hohe Haus“ mit leichter und deftiger Kost im malerischen Fischerdorf Greetsiel.

Probieren: Filets von der Kutterscholle in Eihülle gebraten, zerlaufener Butter, Salzkartoffeln und Gartensalat.

Literatur: „Die Krummhörn“, 19.80 Euro. „Ostfriesland und Umgebung“, 24.99 Euro (beide Verlag Soltau-Kurier-Norden). „Deutsche Nordseeküste“, Baedeker Reiseführer, 22.99 Euro.

Ein Beitrag mit Fotos für ReiseTravel von Manfred Lädtke.

Manfred Laedtke ReiseTravel.euUnser Autor lebt und arbeitet in Karlsruhe.

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