Krummhörn

Es soll Zeitgenossen geben, die Ostfriesland für eine Erfindung von Otto Walkes halten. Was natürlich Unsinn ist: Wettlauf übers Wattenmeer!

Schlittenfahrt am Meer: Dass sich Ostfriesen jeden Sommer in der Pampe suhlen, um bei „Schlickschlittenrennen“ und Kraft und Geschicklichkeit zu messen, könnte aber durchaus ein Kalauer aus dem Repertoire des Komikers sein.

Einmal im Jahr, wenn an der Nordseeküste zwischen Emden und Greetsiel die See wieder auf Tauchstation gegangen ist und Ebbe weite Flächen des Meerbodens freilegt, ziehen hinter dem „Trockenstrand“ von Upleward ulkig kostümierte Menschen zu einer Schlammschlacht ins Watt. So kurios wie ihre Kleidung sind auch die Namen der Dörfer, aus denen sie kommen: Upgantschott, Twixlum oder Rechtsupweg. Kein Ostfriesen Witz ist auch der Ort, den sich die Nordmänner für ihre „Wältmeisterschaft““ ausgesucht haben.  Damit die kleine Bauerngemeinde Upleward Touristen einen Strand anbieten kann, das Gesetz neu aufgeschütteten Sand im Nationalpark Wattenmeer jedoch verbietet, verlagerten die pfiffigen Ostfriesen ihren Strand eben auf die Landseite hinter den Schutzwall. Alles kein Problem. Bei Flut den Deich hoch, dann wieder runter, schon ist man auf der anderen Seite und kann im Meer baden. Und geht die See auf Tauchstation, ist Party-Time.

Beim „Karneval im Watt“ treten Mannschaften mit einem Schlickschlitten gegeneinander an und rutschen über die Schwarze Piste: Ein Knie auf dem Schlitten abstützen, mit dem Bein kräftig abstoßen, und losgeht der Staffellauf bis zum Wendepflock und zurück. Weil es die meistens vier Läufer jeder Mannschaft mit dem Training nicht so ernst nehmen, sind selbst scheinbar Chancenlose nicht chancenlos. Schließlich punktet ja auch die Verkleidung.

Schlammschlacht im Watt by ReiseTravel.eu

Rutschpartie im Schlick: 2 x 40 Meter müssen die Schlammsportler in einem Staffellauf zurücklegen

Manchmal begleiten Tausende von Zuschauern ihre Favoriten zum Wettrennen in der feuchten Wüstenlandschaft“. Und selbst, wenn Petrus dem Schlickschlittenrennen mal seine Schirmherrschaft versagt, ziehen an dem schmutzigsten Samstag des Jahres nicht weniger als 500 Schaulustige mit Rasseln und Tröten über den Deich.

Eine steife Brise bläst seit Stunden fette Wolken über die Frischluftarena. Wahrlich kein Farbfilmwetter. Zu allem Übel hat es vor zwei Stunden auch noch wie aus Kübeln geschüttet. Ein echter Ostfriese lässt sich von solchem „Schiedwetter“ aber nicht den Spaß vermiesen: „Dat geit bald vorbie“, macht ein Hartgesottener vom Team „Silver Surver“ seinem Namen alle Ehre und bleibt Optimist. Regen spüle den Parcours schön glitschig, kombiniert der Kriminalkommissar aus Aurich. Auch sonst weiß der in einen glitzernden Silberdress gehüllte Kripomann wie der Fall am „Tatort Watt“ erfolgreich zu lösen ist. Viel Puste, eine starke Konstitution und möglichst glatte Bahn brauche man, damit die Beine im Schlick nicht schlapp machen.

Während die kunterbunte Spaßgesellschaft in Seeräuberkleidung und Clownmaskerade für Schnappschüsse posiert, stecken der Kameramann und Moderator vom Landesfernsehen schon bis zu den Knien im Modder und richten ihr Arbeitsgerät auf „Die Störtebeker Jungs“, die „Turbo Schlick Schneggen“ und „Die drei Bekloppten Vier“. Von mehr als zwei Dutzend Wettkampfteams haben sich die „Allstars“ und „Silver Surver“ ins Finale gekämpft und sind jetzt mit großem Ernst bei der Gaudi. Da gibt es nichts zu lachen. Nichts zu lachen gab es früher auch für arme Fischer, die sich keinen Kutter leisten konnten. Auf dem Kasten-Schlitten glitten sie im Watt zu ihren Stellnetzen, um den gefangenen Fisch schnell an Land zu bringen. Aus der Tradition machen sich die Ostfriesen 60 Jahre später einen „schnellen“ Jux. Immerhin war das Arbeitstempo jener Zeit wesentlich gemächlicher als bei den „Silver Surver“, die sich gerade mächtig ins Zeug legen.

Die Schlacht tobt der Entscheidung entgegen. Beim Duell gegen die „Allstars“ quälen sich die Friesen mühsam durch ausgetretene Schlammfurchen und schieben mit ausgestreckten Armen den Schlitten vor sich her. Allmählich erobert sich das Meer sein Terrain zurück. Mini-Prile im Watt machen das Vorwärtskommen noch schwerer. Bei jedem Schritt versinken die Beine bis zu den Knien im glucksenden Morast. „Maag to un dreih dien oll Pott“ (mach zu und dreh endlich den Schlitten), feuern die Kollegen den letzten Staffelläufer der „Silver Surver“ an. Zähne zusammenbeißen. Die Pampe spritzt und schmatzt, das Publikum johlt und klatscht. Der „Surver“ stöhnt, keucht, und läuft als sei der Klabautermann hinter ihm her.

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Harte Beinarbeit ist bei den Wattflitzern der Ostfriesischen Sommerspiele gefragt

Lang gezogene „Joooh, Joooh, Joooh“- Rufe schallen über das Watt, als er dem tapfer kämpfenden „Allstar“ Meter um Meter abringt. Die Kräfte schwinden. Wie saugender Pudding drückt der Schlick gegen Knie und Schenkel. Nur noch fünf Meter - eine Entfernung, die scheinbar so endlos weit ist, wie das platte Land an der Waterkant. Hastig ein prüfender Blick zur Außenbahn auf den bedrohlich näher kommenden Konkurrenten! Jetzt noch zwei, noch einen Schritt, dann sinkt der matschverschmierte Wattläufer hinter der Ziellinie der Länge nach ins klebrige Feld. 2,22 Minuten auf der doppelten 40-Meter-Strecke bedeuten die „Inoffizielle Deutsche Meisterschaft“ bei den ostfriesischen Sommerspielen.

Allmählich kehrt wieder Stille und Beschaulichkeit auf der anderen Seite des Trockenstrands von Upleward ein. Bis zum nächsten Jahr. Dann treffen sie sich wieder, zum dreckigsten Rennen der Welt.     

Schlammschlacht im Watt by ReiseTravel.eu

Schachmatt im Watt

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Lage: Das Bauerndörfchen Upleward liegt in der Krummhörn an der westlichen Nordseeküste von Ostfriesland. Am Schlickschlittenrennen können „Wattläufer“ aus ganz Europa teilnehmen. Start ist um 11 Uhr in Upleward. Holzschlitten werden gestellt, eine Gebühr nicht erhoben. Weitere Wettbewerbe finden im Reusenlauf, Aalsprint und Wattfußball statt.

Unterkünfte: Private DZ gibt es ab circa 50 Euro, Ferienwohnungen ab 70 Euro, DZ im Hotel ab 100 Euro pro Nacht.

Auskünfte: Touristik-GmbH Krummhörn-Greetsiel, Zur Hauener Hooge 11, D-26736 Krummhörn. Informationen über die Region: www.greetsiel.de

Literatur: Bildband „Die Krummhörn“, SKN Druck und Verlag, 19,80 Euro. Reisehandbuch „Ostfriesland“ Michael Müller Verlag, 15,90 Euro. Krimi-Hörbuch „Totenstille im Watt“ von Klaus-Peter Wolf, Jumbo Verlag, 20 Euro.

Ein Beitrag mit Fotos für ReiseTravel von Manfred Lädtke.

Manfred Laedtke ReiseTravel.euUnser Autor lebt und arbeitet in Karlsruhe.

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