Kiew

Chronologie eines Unfalls – Tschernobyl

In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 sollte Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl für Routineuntersuchungen heruntergefahren werden: Man wollte die Situation zudem nutzen, um ein Experiment durchzuführen. Die Rotationsenergie einer Turbine sollte nach Absperren der Frischdampfzuführung ausgenützt werden. Sie sollte noch solange Strom für die Kühlmittelpumpen erzeugen, bis die Notstromdieselaggregate auf voller Leistung waren. Um das Experiment gegebenenfalls noch einmal wiederholen zu können, wurden vor Beginn des Tests mehrere Schnellabschaltsignale deaktiviert.

+ Mit dem Herunterfahren von Block 4 wurde in den frühen Morgenstunden des 25. April

begonnen. Die thermische Reaktorleistung wurde auf zirka 1.600 Megawatt (MW) halbiert. Der Lastenverteiler in Kiew hatte aber weiteren Strombedarf angemeldet. So musste der Reaktor noch am Netz bleiben.

+ 25.4.1986, 21 Uhr: Die Reaktorleistung konnte auf 20 bis 30 Prozent reduziert werden. Aufgrund der einsetzenden Xenon Vergiftung (Anm.: Das bei der Kernspaltung entstandene radioaktive Xenon-Isotop ist ein Zerfallsprodukt aus der Kernspaltung, das Neutronen absorbiert.) musste der Reaktor stark nachgeregelt werden, um die Reaktorleistung zu stabilisieren.

+ 26.4.1986, 0 Uhr: Nachdem es gelungen war, die Reaktorleistung bei ca. 500 MW zu stabilisieren, sollte das Experiment beginnen. Allerdings wäre dafür ein Leistungsbereich zwischen 700 bis 1000 MW vorgesehen gewesen. Die Reaktorleistung konnte allerdings nicht so einfach auf das erforderliche Niveau angehoben werden, da bereits 30 Operational Regulator/ Margin (ORM) ausgefahren waren. (Anm.: Diese Maßeinheit bezeichnet, wie viele Anteile von den insgesamt 211 Regelstäben sich außerhalb des Reaktorkerns befinden. Sie würden im Notfall nicht zu Neutronenabsorption und der Unterbrechung der Kettenreaktion zur Verfügung stehen. Als Limit wird für den in Tschernobyl eingesetzten Reaktortyp RBMK-1000 eine ORM von 26 angegeben. Das bedeutet, dass nicht mehr als umgerechnet 26 Regelstäbe aus dem Reaktor herausgezogen werden dürfen.) Der Reaktor wurde nun im niedrigen Leistungsbereich weiter betrieben.

+ Durch einen Regelfehler bei der Umstellung der Leistungsregelung auf Versuchsbedingungen fiel die Reaktorleistung praktisch auf Null. Sie konnte nur durch ein weiteres Herausziehen von Absorberstäben auf ungenügende sieben Prozent der Nennleistung erhöht werden. In diesem niedrigen Leistungsbereich weist der Reaktor schwierige Steuerungseigenschaften auf, da er für Dauerbetrieb in diesem Bereich nicht konstruiert ist.

+ 26.4.1986, 0.43 Uhr: Ein wichtiges automatisches Regelsignal wurde überbrückt. Es sollte den Reaktor im Notfall abschalten.

+ 26.4.1986,1.23 Uhr: Das Experiment wurde mit dem Schließen des Turbinenschiebers eingeleitet. Durch das Auslaufen des Generators wurden die vier angeschlossenen Hauptkühlmittelpumpen von der Stromzufuhr abgeschnitten und liefen ebenfalls langsam aus. Dadurch verringerte sich der Wasserdurchsatz im Reaktorkern und die Temperatur stieg an. Es bildete sich mehr Dampf in der aktiven Zone, was zur Verstärkung der Kettenreaktion führte. Weniger Neutronen wurden absorbiert. Die Betriebsmannschaft leitete daraufhin eine Schnellabschaltung ein. Die Leistung stieg trotzdem erst langsam auf 15 Prozent an. Wegen verzögerter Dampfbildung in den Kanälen der aktiven Zone schnellte sie dann in Sekundenbruchteilen auf das Tausendfache der Nennleistung. Mehrere dumpfe Schläge waren aus der Gegend des Reaktorsaals zu hören. Der plötzliche Reaktivitätsanstieg mündete in eine unkontrollierte Kettenreaktion. Das Kühlmittel verdampfte. Durch den enormen und schlagartigen Druckanstieg in den Kanälen barsten diese. Eine gewaltige Explosion erschütterte und verwüstete den ganzen Gebäudekomplex. Die obere Kernabdeckplatte mit einem Gewicht von 3.000 Tonnen wurde von den Kanälen abgesprengt. Sie fiel schräg wieder zurück auf den aufgerissenen Reaktortorso.

Das Ausmaß der unmittelbaren Zerstörung

Bei den heftigen und dicht aufeinander folgenden Explosionen wurde fast das gesamte Reaktorinventar herausgeschleudert. In einer fast 100 Meter hohen, nach Augenzeugenberichten rötlich braunen Flamme mit starker Russentwicklung, wurde das Dach der Reaktorhalle weggerissen. Die Trümmer, der Reaktorgraphit, die Brennstofffragmente und schwere Maschinenteile fielen im Umkreis von einigen Hundert Metern auf das Gelände. Das mit Teerpappe eingedeckte Maschinenhaus ging in Flammen auf. Zahlreiche Brände entstanden auf den umliegenden Gebäuden. Auch der unmittelbar benachbarte Reaktorblock 3 und das Zwischengebäude mit dem Schornstein waren betroffen. Eine heiße Rauchsäule stieg fast einen Kilometer hoch in den zu dieser Zeit nahezu windstillen Nachthimmel.

Nach wenigen Minuten war die Werksfeuerwehrbrigade im Einsatz. Sie versuchte, die Brände auf den Dächern zu bekämpfen. Mit Löschwasser wollte sie dem roten Glühen im Reaktorsaal beikommen. Dies gelang nicht. Die 1.700 Tonnen Reaktorgraphit mit den Brennstoffkanälen hatten sich durch die sehr hohe Temperatur entzündet. Sie glühten wie ein großes Kohlebrikett, durchsetzt mit Reaktorbrennstoff. Zu diesem Zeitpunkt war die Kettenreaktion großteils zum Erliegen gekommen. Die Wärmeentwicklung kam vom Graphitbrand und der Nachzerfallswärme der radioaktiven Spaltprodukte. Bereits nach wenigen Stunden wurden zahlreiche Feuerwehrmänner mit schwerer Übelkeit und Erbrechen in den Medpunkt des Kraftwerks eingeliefert. Ihre Haut war rotbraun gebrannt, jedoch meist nicht durch das Feuer, sondern durch die radioaktive Strahlung.

Radiologische Situation am Unfallort

Die Strahlenfelder waren nach der Katastrophe unvorstellbar hoch. Selbst in der zirka drei Kilometer entfernten Stadt Pripjat betrug die direkte Gammastrahlung kurz nach der Explosion mehrere Millisievert pro Stunde. Der Normal wert in der Natur ist etwa 10.000 Mal kleiner. Er beträgt zirka 0,1 Mikrosievert pro Stunde. Diese direkte Strahlung kam aus der radioaktiven Wolke, die sich über dem Reaktor gebildet hatte. Zudem wurde Reaktormaterial ausgeworfenen, das im Umkreis des Blockes verteilt war.

Die Dosisleistung auf dem Werksgelände nahe dem havarierten Block betrug in den ersten Stunden zwischen zehn und einigen 100 Millisievert pro Stunde. Auf dem Dach des Zwischengebäudes und dem Gerüst des Schornsteins, von wo aus manche Feuerwehrmänner den Reaktorbrand zu löschen versuchten, war die Strahlung so hoch wie im Reaktor. Zum Teil betrug die Dosisleistung bis zu 200 Sievert pro Stunde. Solche Belastungen kann selbst ein starker Organismus nur wenige Minuten aushaken. Die Strahlenfelder lagen bis zum Milliardenfachen über der natürlichen Hintergrundstrahlung. Eine absorbierte Dosis von fünf Sievert führt innerhalb von Tagen oder Wochen ohne medizinische Behandlung zum Tod durch akute Strahlenkrankheit. Manche Feuerwehrmänner oder herbeigerufene Technikerinnen brachen bereits nach wenigen Minuten unter Krämpfen zusammen.

Die Luft war angereichert mit radioaktiven Gasen. Diese entströmten dem Reaktor und dem Ausgeschleuderten Brennstoff. In den ersten Stunden und Tagen waren vor allem die kurzlebigen radioaktiven Isotope wie Jodm, Jodisj, Tellur oder Cäsium für die Dosis verantwortlich. Erst später blieben die langlebigen Radioisotope wie Cäsium und Strontiumgo übrig.

Notfallmaßnahmen

Durch die Reaktorkatastrophe wurden insgesamt etwa 300 Millionen Curie Aktivität freigesetzt - der größte Anteil während der Explosion und innerhalb der ersten beiden Maiwochen. Noch in der Nacht wurden von Kiew und Moskau Anweisungen erteilt, wie mit der apokalyptischen Situation umzugehen sei. Das Hauptproblem war das mangelnde Wissen um die eigentliche Situation. So kam es zu verzweifelten Versuchen, den Reaktor mit Wasser zu kühlen, damit er nicht überhitzt und zerstört würde. Erst später bemerkte man, dass das Wasser aus der abgerissenen Verbindung herausströmte und zusammen mit dem Löschwasser in die Kellersysteme floss. Da die Keller der Blöcke nicht von einander getrennt waren, breitete sich das hochradioaktive Wasser dort aus. Es gefährdete elektrische Systeme anderer Blöcke.

Am Morgen des 26. April erreichte eine Regierungskommission die Unfallstelle. Die Expertinnen waren aus der ganzen Sowjetunion zusammengezogen worden. In der Region wurde der Notstand ausgerufen. Die konventionellen Brände konnten unter großem Einsatz der Brigaden gelöscht werden. Der Reaktor hatte sich inzwischen so stark erhitzt, dass umliegende Betonträger und Teile des biologischen Schilds weiß glühten.

Langsam erkannte man die Tragweite der Katastrophe. Das Koordinationszentrum wurde zuerst in der Notstandswarte in den Kellerräumen am anderen Ende des Kraftwerks untergebracht. Aufgrund der enormen Radioaktivität wurde es nach Pripjat und später 15 Kilometer weiter in den Ort Tschernobyl verlegt. Spezialtruppen des Militärs, technische Abteilungen großer Industriewerke, Sanitätshelferinnen, wissenschaftliche Expertinnen und das KGB wurden zum Einsatz geholt. Evakuierungsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung liefen an. In mehreren konzentrischen Kreisen um das Kernkraftwerk wurde das Gebiet weiträumig abgeriegelt.

Evakuierung

In drei Etappen wurden bis zum 5. Mai alle über 115.000 Menschen im 30-Kilometer-Gebiet um das Kraftwerk evakuiert. Zusammen mit den Städten Pripjat und Tschernobyl wurden 76 Ortschaften völlig geräumt. Sie wurden den Miliztruppen übergeben. Die Evakuierung wurde mit Bussen vorgenommen. Um Panikzuständen vorzubeugen, wurden die Aktionen nachts vorbereitet.

Der Evakuierung war eine Ausgangssperre vorangegangen. Die Menschen wurden aufgefordert, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Sie sollten sich ins Innere ihrer Wohnungen zurückzuziehen, um sich nicht der direkten Strahlung auszusetzen. Die Einwohner wurden mit Lautsprecherwagen und Durchsagen von Helikoptern sowie durch Fernsehen und Radio aufgefordert, sich innerhalb einer festgesetzten Frist, mit dem Nötigsten versorgt, abfahrtbereit zu sammeln. Milizionäre regelten das rasche und geordnete Einsteigen in die Busse. Haustiere mussten zurückgelassen werden. Die über 50.000 Einwohner von Pripjat wurden bereits am Abend des 27. April innerhalb von drei Stunden mit 1.200 Bussen evakuiert. Darunter waren 17.000 Kinder und 80 bettlägerige Patientinnen. Die Fahrzeugkolonne reichte beim Verlassen der eingerichteten Kontrollzone über 15 Kilometer. Während dieser Zeit rollten unaufhörlich Lastwagen und Busse, Spezialtransporter und Kettenfahrzeuge in die Gegenrichtung. Sie schafften das nötige Gerät zur Eindämmung der Nuklearkatastrophe heran.

Aufräumarbeiten und Sarkophag

Insgesamt waren 600.000 Menschen als Liquidatoren an den Aufräumarbeiten beteiligt. Die Arbeiten standen unter enormem Zeitdruck. Sie mussten in radioaktiver Umgebung durchgeführt werden. Die schwierigste Aufgabe bestand in der Errichtung eines Schutzmantels um den offen liegenden Reaktor und das zertrümmerte Gebäude von Block 4. Zwischen Mai und Oktober 1986 errichtete man den so genannten Sarkophag. Er ist eine Schutzhülle aus Stahl, Beton und Schutt. Beim Bau kamen unter anderem ferngesteuerte Bagger und Planierraupen, Schwerlastkräne, Betonpumpen und schwere Militärhubschrauber zur Anwendung. Die Arbeiten wurden Tag und Nacht vorangetrieben.

+ Der größte Teil des Reaktorinventars ist im Sarkophag eingebunkert oder an der Westwand zu einer radioaktiven Deponie aufgehäuft. In der Sperrzone bestehen weitere Lagerstätten für radioaktive Abfälle.

+ 11.500 Behälter mit festen radioaktiven Stoffen lagern in einer überdeckten Stahl beton wanne an der ehemaligen Baustelle der Blöcke 5 und 6 im Lager "Komplexnuj".

+ Zwölf Kilometer vom Kraftwerk entfernt befindet sich das Lager "Burakowka" mit 200.000 Kubikmeter schwach- und mittelaktiver Abfälle in 30 Gräben.

+ Die Moduldeponie "Podlesnuj" ist zirka 1,5 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Sie ist für fünf Millionen Kubikmeter hoch- und mittelaktive Stoffe ausgelegt.

Auf zahlreichen weiteren Deponien sind radioaktiv verseuchtes Erdreich, kontaminierter Asphalt, verseuchte Fahrzeuge, Hubschrauber und Baumaschinen sowie Betriebsabfälle (in flüssiger Form) von den Kernkraftwerksblöcken l bis 3 abgelagert. Ein großes Problem stellen die in der Eile unzureichend dokumentierten Grabendeponien dar: 1,1 Millionen Kubikmeter Abfälle liegen zum Teil im Grundwasserbereich, wo vor allem Strontium9o ausgewaschen wurde. Die Grenzwerte für Trinkwasser wurden 1996 an manchen Grundwassermessstellen um mehr als das 100-fache überschritten. 

Zitiert nach einem Bericht der Wiener Umweltanwaltschaft Quelle: http://wua-wien.at

„Ich war im Sarkophag von Tschernobyl - Der Bericht des Überlebenden“ Auszug: ab Seite 267:

Ungeachtet der langjährigen Beobachtung, kann Block 4 bis heute nicht vollständig untersucht und Überwacht werden. Der Weg zu manchen Räumen ist völlig blockiert. Bereiche höchster Strahlung und beim Bau des Sarkophages errichtete Betonwände versperren den Weg. Das bedeutet, dass man über die tatsächlichen Zustände und Entwicklungen im Inneren des Reaktors nur begrenzt Bescheid weiß. Dieser Mangel an Daten macht es unmöglich, Vorhersagen über künftige Zwischenfälle zu treffen.

Es ist auch unmöglich, ein Szenario für den Fall des Zusammenbruchs der Stützmauern des Kraftwerkblocks zu erstellen. Und das ist eine der größten Gefahren, mit weltweiten Auswirkungen. In diesem Fall würden Dutzende Tonnen hochradioaktiver Staub und feine Aerosole, unsichtbar für das Auge, sich weithin ausbreiten. Ungefähr zweihundert Tonnen strahlender Brennstoff sind noch im Sarkophag, noch in unterkritischem Zustand. Ungeklärte abnormale Neutronenreaktionen passieren an diesen Orten, wo sich Brennstoff mit hochgradigem Uran anreichert. Wenn das Gebäude unkontrolliert zusammenkracht, wird die Brennmasse zerstört und zur kritischen Masse - und dann kann eine spontane Kettenreaktion einsetzen.

Durch die Lecks im Sarkophag tritt ständig Wasser ein, zusammen mit anderen Niederschlägen, die mit dem Brennstoff reagieren. In der Folge werden durch das Wasser die gelösten Salze des angereicherten Urans ausgewaschen, transportiert und zusammengeführt. An diesen verschiedenen Orten bilden sich neue Gefahrenherde.

Der Brennstoff kann unter extremen Bedingungen seine Form verändern, wird zu Staub und wird vom Wind davon getragen, oder bleibt als Aerosol im Sarkophag. Im Lauf der Zeit werden alle diese Prozesse verstärkt. Auch wenn in jeder Sekunde von den Instrumenten Messwerte übertragen werden, bietet das kaum Möglichkeiten, etwas Grundlegendes zu ändern. Das einzige ist, ständig die Bedingungen in der Hülle zu überwachen und sie für unbekannte Zeit verschlossen zu halten.

Unglücklicherweise hat die Menschheit noch keine andere Lösung entwickelt, als um den Reaktor noch eine Hülle zu bauen. Dieser Zustand lässt einen über die Errichtung eines neuen Sarkophages genau nachdenken, der den schon vorhandenen schließen kann und die Menschheit mehr oder weniger schützen kann vor der Gefahr, die aus den Trümmern von Block 4 ausgeht. Die „Arche", wie die neue Sicherheitshülle genannt wird, war eine von vielen Entscheidungen, um die Situation rund um das Atomkraftwerk Tschernobyl für eine Weile zu entspannen. Auch wenn dieses Projekt ein gutes Maß an Stärke, Dichtheit und Abschirmung vor der Radioaktivität ermöglichen sollte, bleibt es doch nur eine zeitweise Lösung, die die Menschheit nicht vor der möglichen Tragödie bewahren kann.

Auch andere Lösungen waren in Betracht gezogen worden. Die Variante mit dem mutmachenden Namen „Grüner Rasen" sah die vollkommene Demontage von Block 4 und die Wiederaufbereitung der Materialien und des Brennstoffs vor. Aber das ist selbst mit moderner Technologie nicht möglich. Die Variante des „monolithischen Blocks", sicher praktikabel und am billigsten, ließ auch jede Menge Fragen über die Kontrolle und den weiteren Umgang mit dem radioaktiven Brennmaterial offen. Das Projekt „Arche" wurde in der Anfangsphase in den Überlegungen zurückgestellt, weil auch hier eine Reihe von Problemen ungelöst bleibt, nicht zuletzt die Frage der Finanzierung. Und in der Zwischenzeit ist wertvolle Zeit verstrichen, wird die Menschheit von denselben Gefahren bedroht.

Zitiert nach einem Bericht des Tschernobyl Forum 2003-2005: „Das Erbe von Tschernobyl: Einflüsse auf Gesundheit, Umwelt sowie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse", 2. überarbeitete Ausgabe

Anm.: Das Tschernobyl Forum ist eine Initiative der IAEO, in Zusammenarbeit mit der WHO, UNDP, FAO, UNEP, UN-OCHA, UNSCEAR, der Weltbank sowie den Regierungen von Belarus, der Russischen Föderation und der Ukraine.

Arten von radioaktivem Material in der Tschernobyl-Wolke

Die Wolke des brennenden Reaktors verbreitete zahlreiche Typen von radioaktivem Material, besonders Radionuklide von Jod und Caesium, über ganz Europa. Radioaktives Jod-131, der Hauptverursacher von Schilddrüsen-Verstrahlung, hat eine kurze Halbwertszeit (8 Tage) und zerfiel größtenteils innerhalb der ersten Wochen nach dem Unfall.

Radioaktives Caesium-137, das äußere und innere Strahlenschäden verursacht, hat eine viel längere Halbwertszeit (30 Jahre) und kann in vielen Teilen von Europa weiterhin im Boden und einigen Nahrungsmitteln nachgewiesen werden.

Die größten Niederschläge von Radionukliden geschahen über weiten Gebieten der Sowjetunion, die den Reaktor umgaben, und nun in den Ländern Belarus, der Russischen Föderation und der Ukraine liegen.

Schätzungen zur Zahl der kontaminierten Menschen

Geschätzte 350.000 Notfallhelfer und Wiederherstellungsarbeiter — unter ihnen Soldaten, Arbeiter des Kernkraftwerks, Polizisten und Feuerwehrleute — wurden anfänglich in den Jahren 1986 und 1987 eingesetzt, um Reinigungsmaßnahmen durchzuführen. Über 240.000 von ihnen nahmen als Wiederherstellungsarbeiter an umfangreicheren Beseitigungsarbeiten im Reaktor und innerhalb der 30 km-Zone um den Reaktor teil. In der Folge stieg die Zahl der registrierten „Liquidatoren" auf 600.000.

Mehr als fünf Millionen Menschen leben in den Gebieten von Belarus, Russland und der Ukraine, die infolge des Unfalls von Tschernobyl als mit Radionukliden „kontaminiert" klassifiziert wurden (über 37 kBq von 137Cs pro Quadratmeter). Ungefähr 400.000 Menschen davon lebten in stärker kontaminierten Gebieten — von den sowjetischen Behörden klassifiziert als Gebiete mit genauer Strahlenkontrolle (über 555 kBq von 137Cs pro Quadratmeter). Von dieser Bevölkerung wurden 116.000 im Frühjahr und Sommer 1986 vom Gebiet um das Kernkraftwerk Tschernobyl (als „Sperrzone" deklariert) in nicht kontaminierte Gebiete ausgesiedelt. In den folgenden Jahren wurden weitere 220.000 Menschen ausgesiedelt.

Wirkungen ionisierender Strahlung

Die Wechselwirkung zwischen lebendigem Material und ionisierender Strahlung (Alpha, Beta, Gamma oder andere Arten von Strahlung) kann menschliche Zellen beschädigen. Sie kann einige Zellen abtöten, andere verändern. Die Aufnahme ionisierender Strahlung wird gemessen in Einheiten von absorbierter Energie pro Masseneinheit. Das ist die absorbierte Dosis. Die Maßeinheit für die absorbierte Dosis ist das Gray (Gy), das einem Joule pro Kilogramm entspricht (J/kg). Wenn ein menschlicher Körper eine Strahlendosis von mehr als einem Gray empfängt, kann das ein akutes Strahlensyndrom (ARS) verursachen, wie das bei einigen der Notfallhelfer von Tschernobyl geschehen ist.

Weil viele Organe und Gewebe infolge des Tschernobyl-Unfalls der Strahlung ausgesetzt waren, hat man häufig eine weitere Größe verwendet, die effektive Dosis, welche das gesamte Gesundheitsrisiko durch jede Kombination von Strahlung charakterisiert. Die effektive Dosis berücksichtigt sowohl die absorbierte Energie als auch die Art der Strahlung und die Empfänglichkeit unterschiedlicher Organe und Gewebe für die Entstehung einer schweren strahlenbedingten Krebserkrankung oder eines Erbschadens. Darüber hinaus betrifft es Gleicherweise externe und interne Bestrahlung sowie gleichförmige und nicht gleichförmige Bestrahlung. Die Einheit für die effektive Dosis ist das Sievert. Ein Sievert ist eine ziemlich hohe Dosis, so dass man gewöhnlich ein Millisievert oder mSv (ein Tausendstel eines Sievert) benutzt, um eine normale radioaktive Verstrahlung zu kennzeichnen.

Lebende Organismen sind fortwährend ionisierender Strahlung von natürlichen Quellen ausgesetzt. Das umschließt kosmische Strahlung sowie Radionuklide aus dem Kosmos oder von der Erde (wie z.B. 40K, 238U, 232Th und ihre Zerfallsprodukte einschließlich 222Rn). UNSCEAR hat die jährliche Dosis durch natürliche Hintergrundstrahlung, die Menschen erhalten, auf durchschnittlich 2,4 mSv, mit einer typischen Bandbreite von l bis 10 mSv, geschätzt. Die Lebenszeitdosis auf Grund von natürlicher radioaktiver Strahlung belauft sich damit auf zwischen 100 und 700 mSv. Strahlungsdosen für Menschen können damit als auf niedrigem Niveau eingestuft werden, wenn sie mit dem Niveau der natürlichen Hintergrundstrahlung von einigen wenigen mSv pro Jahr vergleichbar sind.

Niederschlag und Ablagerung von radioaktivem Material

Bedeutendere Austritte von Radionukliden aus dem Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl hielten nach der Explosion am 26. April zehn Tage lang an. Sie umfassten radioaktive Gase, verdichtete Aerosole sowie eine große Menge von Brennstoffteilen. Die gesamte Austrittsmenge von radioaktiven Substanzen belief sich auf ungefähr 14 EBq, darunter 1,8 EBq von 1311, 0,085 EBq von 137Cs, 0,01 EBq von 90Sr und 0,003 EBq von Plutonium-Radioisotopen. Edelgase machten ungefähr 50 Prozent der gesamten Austrittsmenge aus.

Mehr als 200.000 Quadratkilometer Fläche in Europa empfingen einen 137Cs-Niederschlag von über 37 kBq pro Quadratmeter. Mehr als 70 Prozent dieser Fläche lag in den drei am meisten betroffenen Ländern, Belarus, Russland und der Ukraine. Der Niederschlag war extrem unterschiedlich, da er in den Gebieten, wo es regnete, als die kontaminierten Wolken vorbeizogen, verstärkt wurde. Die meisten Radioisotope von Strontium und Plutonium wurden wegen der Größe der Partikel im Umkreis von 100 km um den zerstörten Reaktor niedergeschlagen. Viele der bedeutendsten Radionuklide hatten kurze physikalische Halbwertszeiten. Deshalb sind die meisten der durch den Unfall ausgetretenen Radionuklide zerfallen.

Der Austritt von radioaktivem Jod hat unmittelbar nach dem Unfall zu großer Besorgnis geführt. Für weitere Jahrzehnte wird 137Cs von größter Bedeutung bleiben, gefolgt an zweiter Stelle von 90Sr. Auf lange Sicht (Hunderte bis Tausende von Jahren) werden Isotope von Plutonium und Americium-241 übrig bleiben, obwohl die Messwerte radiologisch nicht bedeutend sein werden.

Kontaminierung von Städten

Radionuklid-Niederschläge waren am stärksten auf offenen Flächen in städtischen Gebieten, wie Rasenflächen, Parks, Wohn- und Durchzugsstraßen sowie Stadtplätzen und auf den Hausdächern und -wänden. Solange das Wetter trocken blieb, wiesen Bäume, Büsche, Rasenflächen und Dächer die anfänglich höchste Kontaminierung auf, während bei nassem Wetter horizontale Bereiche wie Erd- und Rasenflächen die höchsten Strahlendosen erhielten. Besonders erhöhte 131Cs-Konzentrationen fand man in der Umgebung von Häusern, wo der Regen die radioaktiven Materialien von den Dächern auf den Boden gewaschen hatte. Abhängig von Wind und Regen sowie menschlichen Aktivitäten, einschließlich des Straßenverkehrs sowie der Straßenreinigung und -Säuberung hat sich die Oberflächenkontaminierung durch radioaktive Materialien in bewohnten Gebieten sowie auf Sport- und Spielplätzen im Jahre 1986 und in den folgenden Jahren deutlich verringert. Eine Folge dieser Entwicklung ist jedoch die Sekundärkontaminierung von Abwassersystemen und Klärschlammdeponien.

In den ersten Monaten nach dem Unfall wurde die Höhe der Radioaktivität bei Nutzpflanzen und Pflanzen fressenden Tieren vom Niederschlag von Radionukliden auf den jeweiligen Böden bestimmt. Der Niederschlag von radioaktivem Jod verursachte die unmittelbarste Besorgnis. Aber dieses Problem war infolge des schnellen Zerfalls des wesentlichsten Isotops 1311 auf die ersten zwei Monate nach dem Unfall beschränkt. Das Radiojod wurde unmittelbar in Milch absorbiert, und zwar in einer hohen Rate, was bei Milch trinkenden Menschen signifikante Schilddrüsendosen mit sich brachte. Das geschah vor allem bei Kindern in Belarus, Russland und der Ukraine. Im übrigen Europa wurden erhöhte Werte von radioaktivem Jod in der Milch in einigen südlichen Gebieten gemessen, wo das Milchvieh bereits auf der Weide war.

Auf lange Sicht leistet die Aufnahme von 137Cs über Milch und Fleisch den bedeutendsten Beitrag zur internen menschlichen Dosis, während über pflanzliche Nahrungsmittel und Getreide weniger aufgenommen wird. Da die 137Cs Aktivität sowohl in pflanzlicher wie tierischer Nahrung während der letzten Dekade nur langsam zurückgegangen ist, wird der verhältnismäßige Beitrag von 137Cs zur internen Gesamtdosis über die kommenden Jahrzehnte der dominierende Faktor sein. Andere langlebige Radionuklide, wie 90Sr, Plutonium-Isotope und 241 Am, werden hinsichtlich der menschlichen Dosis unbedeutend bleiben.

Besonders hohe Konzentrationen von 137Cs-Aktivität wurden in Pilzen, Beeren und Wild gefunden. Und diese hohen Werte bestanden fortdauernd über zwei Jahrzehnte. Während die menschliche Belastung durch landwirtschaftliche Produkte eine allgemeine Verringerung erfahren hat, haben die hohen Werte der Kontamination von Waldfrüchten fortbestanden und überschreiten weiterhin in einigen Ländern die zulässigen Grenzen. In einigen Gebieten von Belarus, Russland und der Ukraine bestimmt der Verzehr von Waldfrüchten mit 137Cs die Höhe der internen Verstrahlung. Das kann man auch für weitere Jahrzehnte erwarten.

Kontamination der Wassersysteme

Radioaktives Material von Tschernobyl führte zu hohen Werten von radioaktivem Material in Oberflächenwassersystemen in den Gebieten in der Nachbarschaft zum Reaktor sowie in vielen anderen Teilen von Europa. Die anfänglich gemessenen Werte ergaben sich zunächst aus dem unmittelbaren Niederschlag von Radionukliden auf der Oberfläche von Flüssen und Seen. Sie wurden bestimmt durch kurzlebige Radionuklide (vor allem 1311). In den allerersten Wochen nach dem Unfall sorgten hohe Konzentrationen von Radioaktivität im Trinkwasserreservoir für Kiew für besondere Besorgnis.

Die anfängliche Aufnahme von radioaktivem Jod durch Fische geschah schnell. Aber die Konzentrationen von Radioaktivität verringerten sich bald, hauptsächlich wegen des physikalischen Zerfalls. Die Bioakkumulation von aus dem Wasser aufgenommenem Radiocaesium in der Nahrungskette führte zu bedeutenden Konzentrationen von Radioaktivität im Fisch aus den am meisten betroffenen Gebieten sowie in einigen Seen in größerer Entfernung, so in Skandinavien und Deutschland. Wegen eines im Allgemeinen geringeren Niederschlags und einer niedrigeren Bioakkumulation hatten die 90Sr-Werte im Fisch nicht die gleiche Bedeutung für Menschen wie Radiocaesium, weil 90Sr besonders in den Knochen angesammelt wird und nicht in essbarem Muskelfleisch. Während die 137Cs und 90Sr-Werte in den Gewässern sowie den Fischen aus Flüssen, offenen Seen und Reservoiren gegenwärtig niedrig sind, wird in einigen „geschlossenen" Seen ohne Abfluss in Belarus, Russland und der Ukraine sowohl Wasser wie Fisch über künftige Jahrzehnte mit 137Cs kontaminiert bleiben. So hat z.B. der Fischverzehr bei der Bevölkerung in der Nähe des „geschlossenen" Koschanowskoe Sees in Russland deren gesamte 137Cs Aufnahme dominiert.

Gesundheitliche Auswirkungen:

Schilddrüsenkrebs bei Kindern

Eines der bedeutendsten Radionuklide, das durch den Unfall von Tschernobyl verbreitet worden ist, war Jod-131. Es hatte in den ersten wenigen Monaten eine besonders große Wirkung. Die Schilddrüse sammelt das Jod aus dem Blutkreislaufais Teil des normalen Stoffwechsels. Der Fallout von radioaktivem Jod führte deshalb zu einer bedeutenden Schilddrüsenverstrahlung durch die Atemluft sowie den Verzehr von Nahrungsmitteln, besonders Milch, die hohe Anteile an radioaktivem Jod enthielten.

Die Schilddrüse ist eines der menschlichen Organe, das besonders anfällig ist für die Krebsbildung durch Strahlung. Es hat sich gezeigt, dass Kinder die am meisten anfällige Bevölkerungsgruppe darstellen. Ein bedeutender Zuwachs von Schilddrüsenkrebs unter denen, die als Kinder verstrahlt worden sind, ist nach dem Unfall nachgewiesen worden. Von 1992 bis 2002 sind in Belarus, Russland und der Ukraine bei Personen, die zur Zeit des Unfalls Kinder und Heranwachsende waren (0-18 Jahre alt), mehr als 4000 Fälle von Schilddrüsenkrebs diagnostiziert worden, wobei die Altersgruppe von 0 bis 14 Jahren am meisten betroffen war.

Die Mehrheit dieser Fälle wurde mit einer günstigen Prognose für das weitere Leben behandelt. Es ist höchst wahrscheinlich, dass ein großer Teil dieser Schilddrüsenkrebsfälle im Kindesalter der radioaktiven Verstrahlung durch den Unfall zuzurechnen ist. Dafür spricht, dass Schilddrüsenkrebs im Kindesalter normalerweise selten auftritt, und dass ein großer Teil der Bevölkerung hohe Strahlendosen in der Schilddrüse aufgenommen hat, sowie dass epidemiologische Studien das aus der Verstrahlung abzuleitende Risiko sehr hoch einschätzen. Es ist zu erwarten, dass ein Anwachsen von Schilddrüsenkrebs als Folge von Tschernobyl noch für viele Jahre stattfinden wird, obwohl der Umfang des Risikos über die lange Zeit schwer zu quantifizieren sein wird.

Leukämie, Tumore und Kreislauferkrankungen

Eine Anzahl epidemiologischer Studien, einschließlich solcher über die Überlebenden von Atombombenexplosionen, Radiotherapiepatienten sowie beruflich strahlenexponierten Personen in der Medizin und der Nuklearindustrie, haben nachgewiesen, dass ionisierende Strahlung Tumore und Leukämie hervorrufen kann. Jüngere Untersuchungen weisen auch auf ein zunehmendes Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei einer Bevölkerung hin, die höheren Strahlendosen ausgesetzt worden ist (z.B. Atombomben-Überlebenden, Radiotherapiepatienten).

Erkrankungen an grauem Star

Augenuntersuchungen bei Kindern sowie Notfallhelfern und Wiederaufbauarbeitern zeigen deutlich, dass sich grauer Star in Zusammenhang mit der Aufnahme von Strahlung infolge des Unfalls von Tschernobyl entwickeln kann. Daten von Untersuchungen bei den Notfallhelfern und Wiederaufbauarbeitern weisen daraufhin, dass eine etwas niedrigere als bisher bekannte Strahlenbelastung — bis hinunter zu 250 mGy — zu Starerkrankungen führen kann. Fortgesetzte Augenuntersuchungen bei den Tschernobyl-Bevölkerungen werden wohl zu Bestätigungen führen und bessere Voraussagemöglichkeiten zum Risiko von strahlenbedingten Starerkrankungen geben. Darüber hinaus werden dadurch Daten verfügbar, die gebraucht werden, um die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Sehstörungen abzuschätzen.

Kosten der Reaktorkatastrophe

Die Kalkulation der Kosten des Nuklearunfalls von Tschernobyl kann nur mit einem hohen Maß an Schätzung vorgenommen werden. Das liegt an den nicht marktwirtschaftlichen Verhältnissen zur Zeit der Katastrophe, der hohen Inflation sowie hoher Schwankungen in den Wechselkursen in der Periode nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991. Die Gesamthöhe der Auswirkungen wird jedoch klar aus einer Vielzahl von staatlichen Schätzungen seit den 1990er Jahren, welche die Kosten des Unfalls über die zwei Jahrzehnte auf Hunderte von Milliarden Dollar schätzen. Das Ausmaß der Belastungen zeigt sich in der Vielfalt von direkt und indirekt entstandenen Kosten:

— Direkter Schaden, der durch den Unfall hervorgerufen wurde

— Kosten, die auftraten wegen

+ des Einschlusses des Reaktors und der Verringerung der Folgen in der Sperrzone

+ der Umsiedlung der Bevölkerung und des Baus neuer Wohnungen sowie der damit zusammenhängenden neuen Infrastrukturen

+ sozialem Schutz und Gesundheitsfürsorge, die für die betroffene Bevölkerung bereitgestellt werden mussten

+ Überwachung der Umwelt, der Gesundheitslage und der Herstellung von sauberen Nahrungsmitteln

+ Strahlenüberwachung der Umwelt

+ Radioökologische Verbesserungen der Siedlungen und Beseitigung der radioaktiven Abfälle

— Indirekte Verluste in der Folge der entstandenen Kosten durch Nutzungsentzug von landwirtschaftlichen Flächen und Wäldern sowie der Schließung von landwirtschaftlichen und industriellen Fabriken

— Folgekosten wie zusätzliche Kosten für die Erzeugung der Energie, die durch den Verlust der Energieerzeugung durch das Kernkraftwerk Tschernobyl notwendig war, sowie für die Aufgabe eines Kernenergie-Programms in Belarus 

Zitiert nach einem Bericht des Umweltbundesamtes Quelle: www.umweltbundesamt.at  

Auswirkungen auf Österreich

Die radioaktive Wolke erreichte Österreich am Nachmittag des 29. April 1986, weitere stark belastete Luftmassen überquerten unser Bundesgebiet am 30. April und am 1. Mai. Am 3., 6. und 7. Mai 1986 waren weitere Anstiege der Luftradioaktivität verzeichnet worden.

Von den insgesamt etwa 80 PBq Cäsium 137 (l Peta-Becquerel entspricht 10 hoch 15 Becquerel, d.h. einer Billiarde Becquerel), die in Tschernobyl freigesetzt wurden, sind etwa 1,76 PBq - also etwas mehr als zwei Prozent - in Österreich deponiert worden. Die mittlere Flächenbelastung Österreichs mit Cäsium 137 betrug 21 kBq/m2 (21.000 Becquerel pro Quadratmeter). 

Daten und Fakten zur Katastrophe von Tschernobyl:

Definitionen der verwendeten Messeinheiten

Curie

... ist die veraltete Einheit der Aktivität eines radioaktiven Stoffes. Sie wurde bis 1985 gebraucht und dann durch die Einheit Becquerel ersetzt.

Becquerel

... ist die Einheit der Aktivität eines radioaktiven Stoffes. Sie gibt die mittlere Anzahl der Atomkerne an, die pro Sekunde radioaktiv zerfallen.

Sievert

... ist die Maßeinheit für bestimmte Strahlendosen. Sie dient der Bestimmung der Strahlenbelastung von biologischer Organismen.

Gray

... gibt die durch ionisierende Strahlung verursachte Energiedosis an. Sie ist eine Maßzahl für die pro Masse absorbierte Energie. 

Der Bericht des Überlebenden: Ich war im Sarkophag von Tschernobyl

Die Vergangenheit tritt immer weiter zurück, lässt die Perversion hinter sich, zu der die Widerspiegelung des historischen Dramas des „Kalten Krieges“ und der nuklearen Gegnerschaft der Supermächte geworden ist. Mehr als zwanzig Jahre habe ich dieses Buch in mir herumgetragen: Nun möchte ich in der Rückschau und Analyse, im Erinnern und Wiedererleben vergangener Ereignisse der nächsten Generation von den Nöten und Bedrohungen berichten, die nicht nur aktuell geblieben sind, sondern von Jahr zu Jahr mehr werden - und sie bedrohen unseren Planeten, unsere einzige Heimstatt.

Wer dieses Buch liest, sollte nachdenken, welches Schicksal unsere Erde erwartet. Sie ist zur Geisel der Menschheit und ihrer technischen Entwicklung geworden. Wenn ich die Parallele zwischen der friedlichen Nutzung der Kernenergie und den Nuklearwaffen ziehe, möchte ich den Leser darauf hinweisen, dass beide gefährlich sind und uns wie auch künftige Generationen bedrohen.

Die Menschheit hat eine psychologische Grenze längst überschritten, Kernwaffen sind in Hiroshima und Nagasaki explodiert, „Atom für den Frieden“ in Tschernobyl. Es ist aber nicht genug, den Wahnsinn des Wettrüstens, die Erfindung neuer Verderben bringender Waffen und den verantwortungslosen Umgang mit der Natur zu verstehen.

Dieses Buch ist das Resultat meiner Erkenntnisse. Vieles ist autobiografisch und erzählt von den realen Geschehnissen jener Tage. Ich hatte mit der nuklearen Aufrüstung und der friedlichen Kernenergienutzung zu tun, die außer Kontrolle geraten ist. Das alles habe ich selbst erlebt, das alles möchte ich erzählen. Wenn ich von Gefahren spreche, weiß ich genau, wie realistisch und bedrohlich sie sind. Ich kann nicht schweigend der heranziehenden Katastrophe planetarischen Maßstabes zusehen.

Schon geringe Störungen des Gleichgewichts der Natur, Katastrophen oder der Einsatz moderner Waffen können Tausend Tschernobyl bewirken, vor denen es keine Rettung gibt. Die Erde ist wie ein Lebewesen, so viele Wunden kann sie nicht heilen. Und niemand weiß, was kommen wird.

Die Menschheit kann noch nicht auf die Atomenergie verzichten, doch es muss möglich sein, die Anstrengungen zu vermehren, um neue ökologisch saubere Energiequellen zu finden, um Kontrollen und Sicherheitsmaßnahmen zu verbessern, Wiederverwertung zu verbessern, die Geschwüre der Erde, die durch Chemie und Radioaktivität entstanden sind, zu heilen. Der Mensch ist angesichts der Naturgewalten machtlos, Kettenreaktionen und ihre Konsequenzen können wir nicht beeinflussen oder zum Stehen bringen. Nur die Vernunft, Forschung und der behutsame Umgang mit der Natur werden den Menschen retten und die blühende Erde für die nächsten Generationen bewahren.

Unmittelbar vor Drucklegung dieses Buches hat sich in Japan die Tragödie von Tschernobyl wiederholt, hat sich wieder einmal die Überlegenheit der Natur über die menschlichen Technologien bestätigt. Ich wünsche mir und bin überzeugt, dass die Geschichte, die hier erzählt wird, zum Nachdenken über die Zukunft anregt.

Von Anatoly N. Tkachuk

Buchtipp: ReiseTravel empfiehlt

Nach vielen Jahren bricht er jetzt sein Schweigen: In seinem Buch „Ich war im Sarkophag von Tschernobyl – der Bericht des Überlebenden“ erzählt er auf sehr persönliche Weise seine Geschichte. So entsteht ein fesselnder Bericht aus dem Innersten des atomaren Infernos, aber auch aus dem Innersten von Menschen, die das Überleben der Welt höher bewerten als das eigene.

Im Zentrum des Buches steht diese Gratwanderung zwischen Wahrheit und Verschweigen, zwischen Tod und Überleben. Der Autor zeigt aber auch, wie Systeme in ihrem Selbsterhaltungstrieb die Wahrheit zu unterdrücken versuchen, wie Entscheidungsprozesse zwischen Verantwortungsbewusstsein und Bürokratie ablaufen; er gibt Einblicke in die Auseinandersetzung der Großmächte und zeigt die Diskrepanz zwischen Konferenztisch und dem Schauplatz der Schattenkämpfe auf.

Dieses Buch ist aber keineswegs nur eine Abrechnung mit der Vergangenheit. Im Gegenteil. Die Rückschau soll unseren Blick schärfen, für das, was jetzt getan werden muss, um die tickende Zeitbombe Tschernobyl in den Griff zu bekommen, um die Zukunft unserer Kinder zu sichern. Denn Tschernobyl brennt noch immer. Der auf 20 Jahre angelegte Sarkophag zerbröckelt, Europas Grundwasser ist gefährdet. Der Autor richtet einen leidenschaftlichen Appell an alle, sich der gemeinsamen Verantwortung bewusst zu werden.

Anatoly N. Tkachuk plädiert nicht für einen Ausstieg aus der Atomkraft, aber er weiß sich mit dem Friedensnobelpreisträger A. D. Sacharow eins in der Überzeugung „Der Fortschritt ist nur unter Kontrolle der Vernunft möglich und sicher.“

Sein Buch ist ein leidenschaftlicher, fast schon verzweifelter Appell an unser aller Vernunft und Verantwortungsgefühl. Wir müssen handeln, bevor es zu

Ich war im Sarkophag von Tschernobyl – Der Bericht eines Überlebenden von Anatoly N. Tkachuk, Styria Premium, ISBN 978-3-222-13337-4, www.styriabooks.at

Das Buch kostet im Buchhandel 24,95 Euro.

Von Mag. Gerda Schaffelhofer 

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