Erfurt

Es war ein "Tatort" Krimi seinerzeit in Erfurt und auch anderswo

Stimmt es, dass das Berliner Kabarett DIE DISTEL am 23. September mit großem Erfolg in Erfurt gastierte? Im Prinzip ja. Allerdings handelte es sich nicht um DIE DISTEL, sondern um vier Ersatzleute. Und die traten auch nicht mit großem Erfolg auf, sondern erlebten einen totalen Schiffbruch.

Mehr als zehn Jahre ist es her, dass DIE DISTEL den Erfurtern das letzte Mal ge­blüht hat. Der Erfolg damals muss enorm gewesen sein, selbst wenn Zeit und Zeitungen das ihre taten, die Lorbeeren von einst zu vergolden. So bewirkte die winzige Ankündigung im Veranstaltungs­plan von erfurt-information (September 1980): Dienstag, den 23. 9. 21.30 Uhr, Schauspielhaus Gastspiel „Die Distel“, Kabarett, eine Völkerwanderung zur Vorverkaufs­kasse in der Bahnhofstraße. Wartezei­ten von drei Stunden und mehr wurden im Hochgefühl der Vorfreude ertragen. Die Preise von sechs bis zwölf Mark ebenfalls. Am Tage des Geschehens strömte zu fortgeschrittener Stunde eine festlich gekleidete Schar (die Roben waren eines Opernballes würdig) in festlicher Stimmung ins Schauspielhaus. Aber der Bauch der Titanic war schon aufgeschlitzt. Noch ahnte es niemand.

An einem trüben Sommertag des vergangenen Sommers hielt vor dem Er­furter Veranstaltungsbüro, Karl-Marx-Allee 22 ein Auto vom Typ WOLGA. Ihm entstieg ein Typ mittleren Alters. Während der Chauffeur im Wagen war­tete, gab sich der Typ als DEFA-Regis­seur Winter zuerkennen und beglückte die Erfurter Kulturmanagemänner mit der Eröffnung, er habe DISTEL-LEUTE an der Hand. (Offerten solcher Art sind nicht branchenunüblich. Was das be­trifft, gibt es zwischen Klempnern und Künstlern keinen Unterschied.) Als der DEFA-Regisseur wieder im Fond seines WOLGA saß, hatte er vier Veranstaltun­gen mit KÜNSTLERN DER DISTEL unter Dach und Fach. Die Verträge würden nachgereicht. Auch das ist nicht bran­chenunüblich.

Die Verträge des Veranstaltungsbüros mit der Medizinischen Akademie Erfurt und dem VEB Optima waren im Prinzip einwandfrei. Von einer Kleinigkeit ab­gesehen. War bei den Telefongesprä­chen noch von KÜNSTLERN DER DISTEL die Rede gewesen, stand auf dem Pa­pier kurz und bündig DIE DISTEL. Und so stand es dann auch auf dem Theaterspielplan.

Die Medizinische Akademie Erfurt wollte ihre Festtage, kurz „Festtage der Wis­senschaft, der Kultur und des Sportes 1980“ genannt, mit einem Paukenschlag beginnen. Beziehungsweise mit einem „erfrischenden Trompetenstoß“ (Brehm) aus Berlin. Am Tage des Heils, vormit­tags 11.45 Uhr, erreichte den Kulturchef die Hiobsbotschaft, DIE DISTEL komme nicht. Stattdessen allererstklassigster Er­satz. Vier Leute. „Was machen diese Leute?“ - „So was wie Kabarett!“ - „Was ist „so was“?“ - „Na, etwas Bänkelgesang ist auch dabei!“ Dem Kultur­chef war das ein wenig zu ungenau. Er bat sich Bedenkzeit aus. Viel Zeit dazu blieb ihm nicht. Die schwarzen Anzüge der Magnifizenzen hingen schon griff­bereit, die Magnifizenzensgattinnen be­fanden sich bereits unter der Haube.

Um zwölf zog der Kulturchef die Not­bremse. Er sagte ab. Die Enttäuschung der Medizinmänner war groß. Aus dem Paukenschlag war ein Schlag ins Wasser geworden. Auch der Optima-Mann sagte ab. Als höflicher Mensch verständigte er seine Kollegen persönlich, vor der Tür des Optima-Kulturhauses. Es war gewiss nicht die optimale Variante, jedoch die einzig mögliche.

 

EulenspiegelInzwischen kamen den Leuten in der Karl-Marx-Allee gewisse Zweifel an der Seriosität des Mannes aus Berlin. Retro­spektiv erinnerte man sich, dass der DEFA-Regisseur mit einer Lizenznummer aufgewartet hatte, die ihn als Mann des Magdeburger Kulturkreises auswies. Das war zumindest sonderbar. Fast schon misstrauisch geworden, rief man bei der DEFA an, wo sich trotz allen Suchens ein Regisseur Namens Winter unter dem gewaltigen Heer von Regisseuren nicht finden lassen wollte. Als man schließlich gewahr wurde, dass sich die vier Ersatz­künstler in Erfurt zum ersten Mal begeg­neten, war man nicht mehr so recht ge­neigt, der Winterschen Versicherung zu glauben, das Ersatzprogramm sei in der Hauptstadt mehrfach und mit großem Erfolg gezeigt worden. Und auch nicht der Versicherung, der bekannte Künstler X, als Programm-Ersatzlokomotive ange­kündigt, liege — o Künstlerpech! — mit Partnerin auf der Autobahn. Panne! In Wirklichkeit hatte X die Wintersche Of­ferte für Erfurt abgelehnt.

Trotz alledem lief der Wintersche Ersatzfilm ab. Der Aushilfskünstler Y fasste sich ein Herz, teilte dem verdutzten Publikum mit, dass das, was es gleich erleben würde, ganz prima sei, aber nicht Die Distel. Diese Eröffnung wurde mit grimmigem Schweigen quittiert. Aushilfskünstler und Partnerin waren gut, aber nicht abendfüllend. Außerdem und vor allem: Die Leute waren nun mal – o Eigensinn! – um der Distel willen gekommen und nicht um irgendwen zu sehen.

Na, vielleicht wäre auch ich etwas verstimmt gewesen, wenn ich mich erst viele Stunden nach Karten für den Heltau angestellt hätte, um dann im Deutschen Theater zu erfahren, der Heltau käme gar nicht, dafür aber ein erstklassiger Moser-Imitator, der auch noch mit den Ohren wackeln könne. Die beiden Bänkelsänger wurden das Opfer eines Missverständnisses. Sie nahmen das höhnische Gelächter für Zustimmung und bänkelten fröhlich weiter. Das Publikum applaudierte sogar. Denen die gingen. Insofern war dann doch noch Stimmung im Theater.

Das alles mag vielleicht dazu angetan sein, den WOLGA-Schlepper in ein etwas schiefes Licht zu bringen. Darum muss hier versichert werden, dass das Wintersche Ersatzprogramm eine Panne war. Das Absagen der Prominenz (höhere Gewalt!), das Jonglieren mit Ersatzleuten ist sonst Winters Sache nicht. Obwohl sich diese Methode ständig wachsender Beliebtheit erfreut. Bei den Disponenten. Winter hatte in der Eile nur etwas vergessen: den DISTEL-Direktor zu fragen. Der fürchtete um den gu­ten Ruf seines Unternehmens und sprach ein starkes Machtwort. Er hatte seine guten Gründe.

Die Sache kann eigentlich vergessen werden. Die Wiedergutmachung ist in vollem Gange. DAS VOLK brachte den Brief eines erzürnten Lesers. Wer klagt, bekommt anstandslos sein Geld zurück. Öffentlich entschuldigt hat sich (an­standslos) niemand.

Und der Herr Winter genießt erst ein­mal nach all den Misslichkeiten einen wohlverdienten Urlaub. Dann dürfte er sich vermutlich gestärkt ins Kulturmana­gement stürzen. Eine gute Seele wird ihm sicherlich wieder eine Lizenz borgen. Das kriegt er schon hin. Offensichtlich füllt ihn sein tatsächlicher Beruf als Restaurantleiter nicht aus. Das wird mir jeder sofort bestätigen, der bestimmte Berliner Lokale kennt. DIE DISTEL aber sollte nun wirklich bald mal nach Erfurt reisen. Damit ihr Nimbus nicht weiterhin ins Ungeahnte wächst. Die in Babelsberg vergeblich gesuchte Karteikarte mit dem Namen Winter lässt sich übrigens mit Leichtigkeit beim Di­rektionsbereich der HO (Gaststätten) Berlin-Mitte II. finden. 

Von Christian Klötzer

Aus Eulenspiegel – Wochenzeitung für Satire und Humor Berlin – Nr. 44/80 (Aus dem Betrugsdezernat oder ein Hochstapler „mit fremden Federn“ unterwegs)

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