John Kampfner

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung weiß Großbritannien immer noch nicht recht, was es sich eigentlich von Deutschland erwartet

Beneidenswert: Der Fall der Berliner Mauer hätte eine perfekte Gelegenheit sein können und sollen, um die Rolle Großbritanniens bei der Wiedergeburt des demokratischen Deutschlands zu feiern. Ein kommunistisches Unterdrückungssystem wurde außerordentlich erfolgreich zu Fall gebracht, und Margaret Thatcher spielte neben Ronald Reagan und Michail Gorbatschow dabei eine tragende Rolle. Sie aber witterte überall nur Gefahr.

Einen Monat nach den unglaublichen Szenen in Berlin sagte sie bei einem Abendessen in Straßburg zu den europäischen Staats- und Regierungschefs: „Zweimal haben wir die Deutschen besiegt; jetzt sind sie wieder da.“ Sie zog Landkarten von Schlesien, Pommern und Ostpreußen aus der Handtasche, wandte sich zum französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und sprach: „Das alles werden sie sich nehmen – und die Tschechoslowakei dazu.“

In ihren Memoiren räumte Margaret Thatcher ein, dass sie damals falsch lag: „Wenn irgendeine außenpolitische Strategie, die ich verfolgt habe, eindeutig gescheitert ist, dann war es meine Politik im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung.“

Dreißig Jahre später scheint Großbritannien immer noch nicht recht zu wissen, was es sich eigentlich von Deutschland erwartet. Wenn Deutschland wie in den 1980er- und 1990er-Jahren wirtschaftlich schwächelt, wird es als überregulierter und unflexibler „kranker Mann Europas“ verspottet. Wenn die Deutschland AG die Weltmärkte beherrscht, heißt es, die Deutschen seien maßlos und unersättlich. Die Briten wollen nicht, dass Deutschland in aller Welt den starken Mann markiert, aber sein Gewicht in die Waagschale werfen soll Deutschland sehr wohl.

Mit aller Vorsicht frage ich mich allmählich, ob sich das Blatt vielleicht gerade wendet. Der Auslöser oder gar die Ursache für eine Neubewertung Deutschlands ist die Covid-19-Pandemie. Fast immer, wenn in den Medien ein Minister der britischen Regierung interviewt wird, taucht die Frage auf: „Warum können wir es nicht so machen wie die Deutschen?“

Der entscheidende Maßstab für ein Land – das gilt übrigens auch für Institutionen oder Individuen – sind nicht die Probleme, mit denen es konfrontiert ist, sondern wie es sie bewältigt, und nach diesem Maßstab ist das heutige Deutschland ein beneidenswertes Land. Deutschland hat mittlerweile eine Reife entwickelt, mit der nicht viele Länder mithalten können.

Als ich 2018 begann, mein Buch zu schreiben, wählte ich bewusst einen provokanten Titel. Einige sträuben sich noch heute gegen die Schlussfolgerungen, zu denen ich in dem Buch gelangt bin. Ein Rezensent bezeichnete es als „Brexit-Revanche-Porno“, stand aber mit seiner Meinung ziemlich allein. Zu meinem Erschrecken scheint das Buch in Großbritannien, wo die eher zukunftsorientierteren Menschen nach neuen Perspektiven für ihr Land suchen und die Nostalgiker sich Trost suchend an alte ruhmreiche Zeiten klammern, einen Nerv getroffen zu haben. Dass das Buch schon in der ersten Woche den Sprung in die Top-Ten-Bestsellerliste schaffte (welcher Autor würde sich darüber nicht freuen?), ist nur ein Aspekt. Wichtiger ist mir, dass das Buch offenbar ein neues Gespräch in Gang bringt und den Wunsch weckt, besser zu verstehen, was in Deutschland eigentlich so gut funktioniert – und was eben auch nicht.

Während weite Teile der Welt dem Autoritarismus erliegen und ein außer Rand und Band geratener US-Präsident, das mächtige China und ein rachsüchtiges Russland die Demokratie von innen aushöhlen, erweist sich ein Land als Bollwerk des Anstands und der Stabilität: Deutschland.

Wer das heutige Deutschland beurteilen will, kommt an Angela Merkel nicht vorbei. Die ultimative Krisenmanagerin hat das Land durch die zweite Hälfte der inzwischen 30-jährigen Wiedervereinigungsgeschichte geführt und wird unweigerlich mit deren Erfolgen und Fehlschlägen in Verbindung gebracht.

Auf die Liste der Fehlschläge gehören meiner Meinung nach die mangelnde Sensibilität der Privatisierungsbehörde Treuhand, die gefühlte Arroganz der Wessis und die Weigerung, wenigstens den einen oder anderen Vorzug der DDR wie zum Beispiel die Frauenrechte zu übernehmen. Der vielleicht größte Fehler war, dass versäumt wurde, mehr Menschen aus dem Osten in leitende Positionen zu bringen, sodass sie eine Vorbildfunktion hätten übernehmen können. Aufschlussreicher ist jedoch ein Blick auf das Positive: Man nenne mir irgendeine andere Nation, die ohne größere Traumata 17 Millionen arme Nachbarn hätte aufnehmen können.

Vor wenigen Wochen wurde mit ähnlich ambivalenten Gefühlen ein weiterer Jahrestag begangen: 2015 nahm Deutschland eine Million Menschen auf, die zu den bedürftigsten der Welt gehörten. In den ersten Monaten engagierte sich etwas mehr als die Hälfte der über 16-Jährigen im Land auf die eine oder andere Weise, um den Flüchtlingen zu helfen. Der Zustrom gab der AfD und ihrer rassistisch-populistischen Empörungspolitik Auftrieb. Doch die Bundeskanzlerin brachte es auf den Punkt: Was hätte sie als Deutsche denn tun sollen? Lager bauen? Auch dies ist exemplarisch für das neue Deutschland, das von seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern allzu oft unterschätzt wird.

Die Ära Merkel ist bald vorbei. Deutschland wird sich zum ersten Mal seit einer Generation an eine neue Führungsfigur gewöhnen müssen. Der Umbruch wird aber weit über die Personalfrage hinausgehen.

Schon jetzt spürt das Land, wie die Last vergangener Gewissheiten von ihm abzufallen beginnt. Was ist aus der Rechtsstaatlichkeit in der Welt geworden? Wie steht es um die Verbreitung der Menschenrechte? Was ist mit der internationalen Ordnung und den trügerischen Sicherheiten passiert, die sie bot?

Während weite Teile der Welt dem Autoritarismus erliegen und ein außer Rand und Band geratener US-Präsident, das mächtige China und ein rachsüchtiges Russland die Demokratie von innen aushöhlen, erweist sich ein Land als Bollwerk des Anstands und der Stabilität: Deutschland.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Partner in Europa, an dem Deutschland sich wohl mehr als an allen anderen orientiert hat, ausgerechnet Großbritannien ist. Entsprechend echt ist der Schmerz über den Austritt Großbritanniens aus der EU, aber die Deutschen sind darüber bereits hinweggekommen. Bei einem britisch-deutschen Dinner in Berlin gab 2019 die damalige Justizministerin Katarina Barley diese bittere Prognose ab: „Selbst wenn wir in Zukunft mit Ihnen einer Meinung sind, werden wir stets mehr Distanz wahren, denn zuerst kommt die Familie – und zu der gehören sie nicht mehr.“

30 Jahre nach den folgenreichen Ereignissen, die den weltweiten Siegeszug der Demokratie einzuläuten schienen, ist die westliche Welt auf Deutschland mehr angewiesen, als sie sich eingestehen mag – und als die Deutschen zugeben mögen.

Großbritannien ist jetzt Die Insel, nicht mehr und nicht weniger. Der Brexit wird in Deutschlands politischen Kreisen mit demonstrativer Gleichgültigkeit behandelt. Das Vereinigte Königreich bleibt im monolingualen Mittelmaß stecken und orientiert sich allzu einseitig an den USA.

Die meisten Deutschen dagegen lernen in der Schule zwei Fremdsprachen. Vielleicht ist das der Grund für die wahrhaft internationale kulturelle Neugier, die mir hier immer wieder auffällt.

Deutschland ist sich bewusst, dass die Grundlage für seinen Wiederaufbau und seine Rehabilitierung nach dem Krieg die europäische Idee war, die unweigerlich mit Abstrichen bei der eigenen Souveränität verbunden ist. Deutschland braucht die Europäische Union. Aber es braucht noch mehr. Nachdem Amerika nicht mehr seine schützende Hand über Deutschland hält, braucht es jemanden, der die liberale Demokratie verteidigt.

Thomas Bagger, außenpolitischer Berater von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, formuliert es so: „Trump stellt eine Herausforderung dar, bei der es um weit mehr geht als nur um politische Meinungsverschiedenheiten. Mit seinem Vorgehen zieht er dem deutschen außenpolitischen Denken den Boden unter den Füßen weg. Deutschland hat seinen Kompass verloren.“

Was Bagger danach sagte, wird mir in Erinnerung bleiben: „Unser Problem ist, dass wir von allen erwarten, dass sie die gleichen Lektionen lernen wie wir.“

Diejenigen, deren Erinnerung länger zurückreicht, tun sich schwer, Deutschland als moralisches und politisches Vorbild zu akzeptieren. Deutschland kann nichts im Alleingang tun. Aber 30 Jahre nach den folgenreichen Ereignissen, die den weltweiten Siegeszug der Demokratie einzuleiten schienen, ist die westliche Welt auf Deutschland mehr angewiesen, als sie sich eingestehen mag – und als die Deutschen zugeben mögen.

Ein Kommentar von John Kampfner. Aus dem Englischen von Christine Hardung.

John Kampfner ist Autor von „Why the Germans Do It Better; Notes from a Grown-Up Country“, erschienen bei Atlantic in Großbritannien. Eine deutsche Übersetzung erscheint 2021 bei Rowohlt.

Friedrich-Ebert-Stiftung. Referat Internationale Politikanalyse. ipg-journal. www.ipg-journal.de

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