Gengenbach | Weihnachtliche Winterreise in den Schwarzwald |
Große Schatztruhe der Fantasien. Weihnachten: Abend für Abend ein Fest
Advent in Rathausfenstern: In Gengenbach steht der größte Hauswand-Adventskalender der Welt. Jeden Abend öffnet sich ein Fenster.
Vor mehr als 220 Jahren hatte der Baumeister und Ratsherr Viktor Kretz eine eher ungewollt weitblickende Idee: Im südlichen Schwarzwald ließ er die Frontseite des Gengenbacher Rathauses mit 24 großen Fenstern Richtung Marktplatz versehen. Einem ehemaligen Gymnasiallehrer kam später die zündende Marketingidee, das Gebäude in einen überdimensionalen Adventskalender zu verwandeln.
Beide konnten nicht ahnen, dass die Redaktion des Guinness-Buch der Rekorde 1997 das badische Bauwerk als den größten „Hauswand-Adventskalender“ der Welt bestätigen würde. Damals schnappten die Gengenbacher einem Konkurrenzkalender in Franken den Titel nach korrekten Messungen weg, weiß Michael Foell von der örtlichenTourist-Information.
Superlativ hin, lokaler Anspruch her. Auch ein Weihnachtskalender in Leipzig zählte ja schon zu den „ganz Großen“. Weil der aber auf ein Gerüst montiert wurde, musste er sich mit Kalendern anderer „Bauklassen“ messen lassen. Jetzt gibt es ihn nur noch virtuell. Dennoch wird dieses Jahr und auch in Deutschland wieder landesweit nach Größe, Originalität und Strahlkraft gefragt, und ob nicht doch irgendwo eine Installation dem größten „Hauswand-Adventskalender“ der Welt mit ein paar Zentimetern mehr das Maßband reichen kann.
Schmale Wege führen in die stimmungsvolle Gengenbacher Engelgasse
Was soll´s. In der Adventszeit trägt nur der Marktplatz des Fachwerkstädtchens im Kinzigtal ein Festgewand, das keiner „Kleiderordnung“ europäischer Weihnachtsmärkte gleicht. Himmlische Ansichten von Chagall, Ungerer oder Warhol leuchteten seit 1996 an der Fassade.
Selbst der „kleine Prinz“ von Saint-Exupéry kam ganz groß heraus. In diesem Jahr wird Gengenbach paradiesisch. Ein exotisches Flair farbenfroher Traumwelten mit üppigen Pflanzen, Tieren sowie Ansichten örtlicher historischer Gebäude aus dem Malkasten des Illustrators Olaf Hajek sollen die Besucher verzaubern.
Am 30. November beginnt das bilderreiche vorweihnachtliche Ritual. Wenn sich die Dämmerung über die 790 Jahre alte Kleinstadt legt, öffnet sich jeden Abend um 18 Uhr bis zum 24. Dezember ein neues Türchen auf dem 23,5 mal 25 Meter großen Kalender.
Tausende von Menschen erwarten dann das Schauspiel vor den Weihnachtsbuden auf dem Marktplatz. Es duftet nach gebrannten Mandeln, nach Punsch und Maronen. Feierliche Beleuchtung hüllt die Bürgerhäuser, Türme und Tore der Fachwerkstadt in ein warmes Licht. Plötzlich erlöschen alle Lichter. Ausgerechnet der Adventskalender steht im Dunkel! 15 Sekunden lang klingen Fanfaren von der Rathausempore. Ein Spot huscht über das Gebäude, verweilt auf der eisernen Ritterfigur am Marktbrunnen. Eine Stimme aus Lautsprechern berichtet über die wundersame Geschichte von der Verwandlung des Gengenbacher Rathauses in eine „Schatztruhe der Fantasien“. Dann schwenkt das Licht auf die Bühne, Laienschauspieler in prächtigen, geheimnisvollen Kostümen treten auf. Fabelwesen, Tiere und Menschen vereinen sich im Spiel, lassen Mythen und Legenden wach werden.
Während Handys noch klicken und Videokameras surren, verschwinden die Gestalten wie von Zauberhand in den Rathausarkaden. Wieder erklingen Fanfaren. Alle Augen richten sich auf ein Fenster. Jetzt: Ein kurzes Flackern, dann geht ein Rollo hoch und gibt den Blick auf das neue Fenstermotiv frei. Die leuchtenden Motive in den hohen Fensterbögen des klassizistischen Rathauses mit seinen Pfeilern und Rundbögen erzählen phantastische Geschichten oder lassen Raum für Fantasien. Figuren erwachen scheinbar zum Leben.
Im Winter ist Gengenbach eingebettet in eine weiße Berg- und Tallandschaft
Die Dezembertage ab 2. Advent sind die beste Reisezeit für eine vorweihnachtliche „sichtbare“ Reise in die ehemalige Flößerstadt. Zu dieser Zeit strahlen bereits die ersten hellen Bildfenster am Rathaus in die Winternacht. Magisches Blau, gedämpftes Rot, glitzerndes Silber rückt die Szenerie in ein Zauberlicht.
Vis a vis in den „Schau- und Staunräumen“ gibt es jährlich ein wechselndes Kontrastprogramm. Merkwürdige Maschinen erwachen in dem ehemaligen Patrizierhaus zu einem einzigartigen skurrilen Leben zwischen allerlei Musikautomaten und kleinen Automodellen.
Wer nun im sentimentalen Licht der erleuchteten Fenster Appetit auf Glühwein oder Pfannkuchen verspürt, muss sich sputen. Um 21 Uhr schließt die kleine Budenstadt vor der Rathaustreppe. Ruhe und Beschaulichkeit im weihnachtlichen Flair wollen die Gengenbacher Gästen vermitteln, keine Weihnachtsparty mit „Event-Charakter“.
Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen zur Einkehr in die vielen „guten Stuben“ das historischen Städtchen? Schließlich zählt Gengenbach zu den Hochburgen der Badischen Küche, die Genuss ohne Hast und Trubel in heimeliger Umgebung verspricht. In der kulinarischen Oase „Pfeffermühl“ steht der Hausherr persönlich am Herd. Bei Wildgericht und Spätburgunder berichtet der Küchenchef, dass ein aufgestellter überdimensionaler Adventskalender im benachbarten Elsass Vorbild für die Gengenbacher Bilderflut war. Wo aber hin mit so einer riesigen Motivwand in einer 12.000 Einwohner-Gemeinde?
Das badische Gengenbach gilt als eine „Perle unter den romantischen Fachwerkstädten im Süden Deutschlands
Nach etlichen verworfenen Vorschlägen kamen die Gengenbacher auf die Idee, die Rathausfassade in einen Adventskalender zu verwandeln. Zur Schonung des kommunalen Bankkontos dürfe das Projekt aber nicht aus dem Stadtsäckl finanziert werden, sondern nur mit Spenden und Sponsorengeldern.
Weil es eine Menge zu entdecken gibt, sollten Besucher nicht eine der vielen Stadtführungen versäumen: Zu den motivreichen Fachwerkhäuschen mit Holzgalerien in der Engelgasse, in das verträumte Oberdorf vor der Stadtmauer und auf schmalen Pfaden hoch auf den Hausberg. Wo um die christliche Zeitenwende eine römische Kultstätte und ein Wehrkastell standen, gestatte heute eine 320 Jahre alte Kapelle stille Einkehr und den Blick auf die Altstadt in der weiten Talllandschaft.
Eine Stadterkundung mit ganz eigenem Charme ist der Rundgang mit einem Nachtwächter und ein Besuch auf sieben Etagen im Narrenmuseum im Niggelturm. Während anderswo der sprichwörtliche „Schalk“ im Nacken sitzt, hängt er in Gengenbach außen am 36 Meter hohen Turm. Im Inneren wird´s bunt und neckisch. Lebensgroße Hexen treiben ihr Unwesen mit Strohmännern, den „Usgstopfte“, necken Novizen mit dem „Lumbehund“ und „Spättlehansel“ spaßen mit Streckscheren und Feuerhaken.
Nach 132 absolvierten Stufen lassen die Gäste die schwäbisch-alemannische Fasnacht hinter sich und treten durch eine schwere Holztür auf die Turm-Balustrade. Wooow! So ist die weihnachtliche Idylle perfekt. Der Blick schweift über die verschneiten Häuser der Stadt zu den leuchtenden Fenstern am Rathauskalender, über das Kinzigtal und bei klarer Sicht hinüber bis nach Straßburg. Von Manfred Lädtke
ReiseTravel Service
Anreise: Mit der Bahn bis Offenburg. Weiterfahrt alle halbe Stunden bis Gengenbach (acht Minuten). Mit dem Auto auf der A 5 bis Abfahrt Offenburg.
Rahmenprogramm: Konzerte in Kirchen, Kellern und Kneipen, Kleinkunst, kulinarische Abende in Restaurants, Ausstellungen, Wanderungen und Stadtrundgänge. www.gengenbach.info
Restauranttipp: „Pfeffermühle“ mit ausgezeichneter badischer Küche, erlesenen Weinen, Zimmervermietung und Parkplatz. www.pfeffermuehle-gengenbach.de
Probieren: Bauernente aus dem Ofenrohr mit Orangensoße, glasierten Maronen, geschmortem Apfelrotkohl und Kartoffelpürée.
Unterkunft: Ruhig gelegen am Stadtrand: www.scharzwaldhotel.de
Literatur: „Schwarzwald“, Verlag Reise Know-How, 19,80 Euro.
Ein Beitrag mit Fotos für ReiseTravel von Manfred Lädtke.
Unser Autor lebt und arbeitet in Karlsruhe.
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