Lutherstadt Wittenberg | Pilgern als Bedürfnis |
Pilgern: Die Ruhe liegt in der Bewegung, die Stille im stetigen Schritt
Immer mehr Menschen gehen auf Wanderschaft, um eine Auszeit aus dem Alltagsstress zu nehmen, um bei sich selbst anzukommen: Einer der Wege dorthin ist das Pilgern. Es entspricht dem wachsenden Bedürfnis nach psychischer Entspannung bei gleichzeitiger körperlicher Anstrengung. Seit 2008 ist Wohlsdorf, Ortsteil von Bernburg, eine Station auf dem Lutherweg. „Komm zur Ruhe“ ist die Einladung von Meditationskirche und Pilgerherberge.
Die Novembersonne schickt gleißendes Licht durch die Fenster des Kirchleins in Wohlsdorf. Strohballen der letzten Ernte leuchten golden. Sie sind zu Sitzbänken aneinandergereiht. Im Altarraum steht Martin Luther – eine von den 800 farbigen Plastefiguren, die der Künstler Ottmar Hörl als Botschafter für das 500. Reformationsjubiläum 2017 auf den Wittenberger Marktplatz gestellt hatte.
Ob der echte Luther hier in dieser Dorfkirche mit romanischem Ursprung gepredigt hat, weiß man nicht. Dennoch fand eine Gruppe von Leuten an der Idee gefallen, hier eine Pilgerstätte einzurichten. Seit 2008 ist Wohlsdorf eine offizielle Etappe auf dem Lutherweg; ein Ruheort für Körper, Geist und Seele. So will es Wolf von Bila, der1992 auf den einstigen Familiensitz „heimgekehrte“ Landwirt, verstanden wissen. „Verstanden“ wurde er sofort von Dietrich Lauter. Der Kreisoberpfarrer und seine Frau Beate gehörten zu den Ersten, mit denen von Bila seine Idee von einem Pilgerweg besprach. Weil Wohlsdorf genau in der Mitte zwischen den beiden Lutherstätten Wittenberg und Eisleben liegt, entwickelte von Bila 2006 erste Ideen, die das Gesamtprojekt Lutherweg mit auf den Weg brachten.
Man kann die Etappen des Lutherweges mit dem Fahrrad abfahren, auch mit dem Auto. Im Sinne der Sache geben die meisten dem Wandern den Vorzug. Das entschleunigt, da wird die Freizeit nicht zum Stressfaktor. Wanderer genießen es, die Natur mit allen Sinnen wahrzunehmen; auch neben fremden Menschen herzulaufen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. „Es gibt immer mehr Menschen“, weiß Lauter, „die das Pilgern für sich zum Lebenskonzept entwickelt haben. Und es gibt auch jene, die sich eine kurze Auszeit nehmen vom Alltagstress, die beispielsweise das Schnupperpilgern auf der Acht-Kilometer-Strecke zwischen Köthen und Wohlsdorf gut annehmen – vom Abiturienten bis zur Großelterngeneration. Denn das „Pilgern“ entspricht einem Zeitgeist, der die Kirche als Raum zur Selbstbesinnung sucht.
Auch Dr. Christian Antz, Referatsleiter für Handwerk, Freie Berufe, Handel, Dienstleistungen und Kreativwirtschaft im sachsen-anhaltischen Wissenschafts- und Wirtschaftsministerium, misst dem Wandern hohe gesundheitliche Bedeutung bei. Als Zuständiger für den Bereich „Spiritueller Tourismus“ weiß er: „Pilgern muss nicht allein religiös motiviert sein. Man kann auch pilgern, um den Weg zu sich selbst zu finden.“ In den letzten Jahren hat Antz beobachtet, wie sich ein Mix aus psychischer Entspannung und physischer Anstrengung zum touristischen Trend entwickelt. „Pilgerwege unterscheiden sich durch ihre Geschichte und ihre Rituale von anderen Wanderwegen. Sie geben Halt, damit die Seele frei schwingen kann. Die Kirchenräume auf diesen Wegen bekommen (noch) eine andere als die religiöse Bedeutung. Sie sind klare Orte der Ruhe, des Ankommens für Körper und Seele“, sagt Antz.
Beispielhaft für solche Orte steht Wohlsdorf. Genau zum Zwecke des Ankommens an einem Ort der Ruhe war die Kirche entrümpelt und repariert worden. Zum Gebet traf man sich hier schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Zunächst finanzierte Wolf von Bila mit der „Geldspende“ seines Onkels, der für neun Jahre Haft im Lager Buchenwald und im Zuchthaus Bautzen eine Entschädigung erhalten hatte, das neue Kirchendach. Dann wurde der Schutt weggeräumt. Den einstigen Pferdestall auf dem Gutshof seines Onkels baute von Bila zur Herberge um.
Neben denen, die nach einem langen Wandertag gern im Hotel schlafen, gibt es auch Pilger, die lieber in Wohlsdorf bleiben“. Mit viel Liebe zum landwirtschaftlichen Detail hat hier Ursel von Bila ein Gemeinschaftsraum eingerichtet; einen wohligen Ort, um sich nach körperlicher Anstrengung zu laben – an Speis’ und Trank und an Gesprächen. Über eine Treppe geht es hoch zum Schlafsaal mit dem tollen Fensterblick auf den barocken Kirchturm – und mit acht Betten, erworben aus Bundeswehrbeständen. „Aus der Sicht eines Friedensbewegten kann es keine bessere Verwendung für Militärbetten geben“, sagt Kreisoberpfarrer Dietrich Lauter verschmitzt. „Typisch Wolf von Bila, der treibt all so etwas auf.“
Die Ruhe liegt in der Bewegung, die Stille im stetigen Schritt - Pilgern
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Von Kathrain Graubaum und Frauke Flenker-Manthey.
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