Takis Würger

Darf ein Romanschriftsteller über das politisch und menschlich Unfassbare schreiben, wenn das Unfassbare eigentlich „unerzählbar“ ist - wie Daniel Kehlmann im Klappentext zu Takis Würgers Roman STELLA formuliert?

Wenn ja, dann wie?: Takis Würger hat die Geschichte der in den 1940er Jahren mit den Nazis kollaborierenden jüdischen Sängerin Stella Goldschlag thematisiert. Ein Wagnis, eine Herausforderung mit Aufschrei-Garantie. Die Kritik lobte, verriss und schrieb Würgers neuen Roman aber auch schonungslos in die Schreddertonne. Von Klischee und von moralischer Verantwortungslosigkeit, von Kitsch und von historischer Fehldeutung ist zu lesen. Echauffiert sich hier eine moralisierend polternde Rezensentenschar, weil der Autor es wagt, ein Tabu zu ignorieren und sich damit auf ganz dünnes politisch korrektes Eis begibt? Fast sechs Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer wurden von Himmlers Knechten ermordet. Ist es da opportun, individuelle Schuld einer Einzelperson, die 300 Juden denunzierte und an die Nazis auslieferte, als Romanstoff zu verarbeiten? Ja. Weil es sachdienlich für die Aufarbeitung des Unfassbaren ist. Der NDR wählte „Stella“ zum Buch des Monats. Die Jüdische Allgemeine beschrieb das Buch als „leise, glaubwürdig und ja, auch schonungslos“.

Stella von Takis Würger, der Hörverlag, Verlagsgruppe Random House

Roman: Ein junger, politisch unbedarfter Schweizer aus reichem Haus reist in das Berlin des Jahres 1942. Er ist neugierig und manchmal liebenswert naiv: Mal sehen, wie das Leben im nationalsozialistischen Deutschland so ist. In einer Malschule trifft Friedrich die mit falscher Identität lebende lebensfrohe Berliner Kodderschnauze Stella Goldschlag, die als Aktmodell jobbt und sich als Kristin vorstellt. Sie verkehren in verbotenen Jazzclubs, lachen, tanzen, treiben es fröhlich im Nobelhotel. Nichts deutet darauf hin, dass das blonde Fräulein Jüdin ist. Dank ihres SS-Kumpels Tristan von Appen und ihres neuen gut situierten Freundes darf sich die hübsche Jazz- und Schlagersängerin das Leben mit Champagner, Koks, Austern und Pralinen versüßen. Erst als sie selbst untertauchen muss und eines Morgens mit Spuren heftiger Folterungen ins gemeinsame Hotelzimmer zurückkehrt, offenbart die Freundin Friedrich ihre wirkliche Identität: Ihr richtiger Name sei Stella. Die Gestapo habe sie enttarnt. Um sich und ihre Eltern vor dem KZ zu bewahren, sei sie mit der Gestapo einen teuflischen Pakt eingegangen. Stella muss untergetauchte Juden aufspüren und denunzieren. Für Friedrich stellt sich die Frage, nach den Grenzen zwischen Liebe und Schuld, Treue und Moral.

Takis Würger: Der 1985 geborene Journalist und Autor ging mit 28 Jahren an die Universität von Cambridge und studierte Ideengeschichte. Heute lebt er in Berlin und schreibt für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ u.a. aus dem Nahen Osten. Viele seiner Reportagen wurden mit Journalistenpreisen ausgezeichnet. Sein erster Roman „Der Club“ erschien 2017 und war für den Aspekte-Literaturpreis 2017 nominiert. Für das Erstlingswerk erhielt er von der lit. Cologne den Debütantenpreis.

ReiseTravel Fact: Für seinen Roman hat Takis Würger in Gerichtsakten aus dem Jahr 1957 recherchiert. Zitate aus dem ersten Prozess, den die Sowjets der echten Stella 1946 machten, unterbrechen die Erzählung als eingestreute Rückblenden, die ein engagiertes Tun der Stella Goldberg belegen. Dieser Kunstgriff vermag es jedoch nicht, die beim Hörer bereits erzeugte Sympathie für die Roman-Stella auf eine distanziertere Betrachtung zu reduzieren. Die wahre Geschichte der „Greiferin“ schildert das Buch in einer fiktiven Handlung. Der Autor vermeidet es, das Geschehen aus der Innenperspektive der Stella darzustellen und bedient sich der Erzählfigur Friedrich. Dieser subjektive Blickwinkel beschreibt Stella nahezu ausschließlich in der Opferrolle - der vielleicht größte Schwachpunkt des Romans.  Die exakte Wiedergabe der Taten und des Lebens der Stella Goldschlag ist aber auch nicht der Anspruch von Würgers Arbeit. Takis Würger wollte weder ein Sachbuch noch eine Dokumentation schreiben. Ihm geht es um eine Geschichte, die offenbart, wie aus Perversion und Ideologie in der Nazizeit individuelle menschliche Tragödien erwuchsen. Die unauffällige Berlinerin ist für den Hörer ohne Kenntnis der realen Person erst bei genauem Hinhören als Opfer und Täterin erkennbar. Indes vermeidet es der Roman, ein Urteil über die jüdische Frau zu fällen, die ihr Leben und das ihrer Familie mit dem Verrat an anderen Menschen zu retten versuchte. Würgers Werk ist ein Plädoyer gegen das Vergessen, und es konfrontiert den Leser mit der Frage: Was hätte ich getan? Wenn in diesem Bemühen eine Liebesgeschichte zum literarischen Werkzeug wird, dann ist das kein Kitsch, sondern eine gebräuchliche Form der Literatur, eine auch in anderen Genres praktizierte Anleihe aus emotional nachvollziehbarem Leben. Oder würden jene Haudrauf-Kritiker Filmproduktionen wie „Holocaust“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ ebenfalls in die Klimbim-Schublade schmeißen, weil Zuneigung und Liebe zwischen Menschen nicht ausgeblendet werden? Würger hat ein kluges, ein wichtiges und zutiefst berührendes Buch geschrieben. Seine Arbeit als Magazinreporter dürfte dem Journalisten geholfen haben, einen heiklen Stoff mit prägnanter schnörkelloser Sprache anschaulich als beklemmende Liebestragödie zu verarbeiten. Von Manfred Lädtke.

Stella von Takis Würger, der Hörverlag, Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkt Str. 28, D-81673 München, ISBN 978-3-8371-4643-1. Gelesen von Valery Tscherplanowa und Robert Stadlober. Lesezeit 5 Std. und 3 Min. www.random-house-audio.de

Das Hörbuch kostet im Handel 20 Euro.

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